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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0556
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536 Jenseits von Gut und Böse

lischen Tugendethik positioniert oder nicht positioniert hat. Zu N.s Bezugnah-
me auf eine an Aristoteles orientierte Ethik des guten Lebens siehe auch
Mchedlidze 2013.
118, 30 Liebe zu Gott] Vgl. NK 86, 2-3.
118, 32-119, 2 zuletzt selbst jene entgegenkommende und muthwillige Hinge-
bung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-
lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle al-
ter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es „wenig Gefahr mehr hat“] Goe-
the ließ sich vom Diwan des persischen Dichters Hafis (ca. 1320-1389), den er
in der Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall kennengelernt hatte, zu
seiner Gedichtsammlung West-östlicher Divan (1819) anregen. Das Thema der
sinnlichen Freuden nimmt in beiden Werken einen breiten Raum ein: Beide
Dichter gestatten sich mit der „licentia morum“ (wörtlich: „Ausgelassenheit,
Ungebundenheit der Sitten“) das Recht auf moralische Freizügigkeit, was ih-
nen in JGB 198 freilich nicht als libertäre, befreiende Gegenmoral, sondern viel-
mehr - im Blick auf das fortgeschrittene Alter der ihren Altmännerphantasien
nachhängenden Dichter - als letztes Symptom der „Moral als Furchtsamkeit“
ausgelegt wird. An anderen Stellen in N.s Werk werden Goethe und Hafis güns-
tiger beurteilt, vgl. FW 370, KSA 3, 622 u. GM III 2, KSA 5, 341, 8-10 (dazu
Stegmaier 2012, 491 f.).
199.
Das Thema der Herdenmoral, mit dem JGB 62 das Dritte Hauptstück abge-
schlossen hat, um die Verfassung des heutigen Europäers in dunkelsten Farben
zu malen (vgl. NK 83, 17-28), wird in JGB 199 historisch ausgeweitet: „Men-
schenheerden“ (119, 6) gebe es schon, seit es Menschen gibt, so dass die Anzahl
der Gehorchenden diejenige der Befehlenden stets weit übertroffen habe. Da-
her sei das Bedürfnis nach Gehorsam, „als eine Art formalen Gewissens“
„durchschnittlich jetzt einem Jeden“ „angeboren“ (119, 11-13). Dass dieses Ge-
horsamsbedürfnis „angeboren“ sein soll, obwohl es ja offensichtlich etwas his-
torisch Gewordenes ist, erinnert an die von Friedrich Albert Lange verteidigte
evolutionäre These Jean-Baptiste de Lamarcks, wonach sich erworbene Eigen-
schaften vererben lassen. Mit einer solchen These scheint auch der Züchtungs-
gedanke im Spätwerk N.s zu liebäugeln (vgl. NK KSA 6, 170, 18-22; NK 148,
28-33 u. NK ÜK JGB 264 sowie Schacht 2013 u. Clark 2013).
Jedenfalls sei das Bedürfnis zu gehorchen auf Kosten des Willens zu befeh-
len dominant geworden und für die Hemmnisse in der menschheitsgeschichtli-
chen Entwicklung wesentlich verantwortlich. JGB 199 zieht dann die quasi dar-
 
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