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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0559
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Stellenkommentar JGB 200, KSA 5, S. 119-120 539

ehe Wohlthat trotz alledem für die Heerden-Thiere das Erscheinen eines unbe-
dingt Befehlenden ist, davon gab der Eindruck Napoleons das letzte große Bei-
spiel. Im feineren giebt es ein gleiches Bedürfniß aller Erkennenden und For-
schenden niedrigeren Ranges nach unbedingt befehlenden Philosophen:
solche setzen unter Umständen für ganze Jahrtausende die Werth-Tafeln der
Erkenntniß fest, wie es zum Beispiel Plato gethan hat - denn das Christenthum
ist nur ein verpöbelter Platonismus - und wie heute noch halb Asien einem
durch Buddha popularisirten Sankhya=Systeme folgt.“ Den Gedanken des
„verpöbelten Platonismus“ griff N. in der Vorrede zu JGB auf (vgl. NK 12, 33 f.),
während er den Bezug zur „Sankhyam-Philosophie“ erst wieder in GM III 27,
KSA 5, 409, 24-28 herstellte (vgl. auch NK KSA 6, 204,1 f.). Aufschlussreich ist,
dass N. im Drucktext von JGB 199 konkrete Hinweise darauf, wer denn zu den
„befehlenden Philosophen“ gehört, ja, dass es solche überhaupt gibt, vollstän-
dig unterlassen hat und dass es für die Befehlenden beim Beispiel Napoleon I.
geblieben ist, für den er - auch unter dem Eindruck Stendhals (vgl. z. B. NK
KSA 6, 286, 3-5) und Goethes (vgl. z. B. NK KSA 6, 106, 17-21) - als exempla-
risch starkes Individuum eine Schwäche hatte (vgl. z. B. NK KSA 6,145,14-17).
Dass die Philosophen Befehlende sein können und sein sollen, gehört zu deren
Rollenprofil, wie JGB es für die Zukunft entwirft; indessen unterbleiben Kon-
kretionen im Blick auf die Vergangenheit ebenso wie philosophische Rollen-
vorbilder. Die Vorstufe KGW IX 4, W I 6, 75, 8-22 hilft zu erklären, weshalb das
so ist: weil die gesetzgebenden Philosophen der Vergangenheit, namentlich
Platon und Buddha, sich von dieser Welt abgewandt, eine lebensverneinende
Moral initiiert und sie ganzen Kulturen aufgezwungen hätten. Diese Philoso-
phen sind mit anderen Worten nur in ihrem imperativisch-legislatorischen Ges-
tus, nicht aber in der Sache Rollenvorbilder. Dennoch darf man auch aus 120,
15-22 folgern, dass von künftigen »unbedingt befehlenden4 Philosophen für die
moralisch-mentale Augenblickswirtschaft eine ebenso grundstürzende Umwäl-
zung erhofft wird, wie Napoleon sie in politicis in Gang gesetzt haben soll.
Allgemein zur Rezeptionsgeschichte Napoleons in der deutschen Kulturge-
schichte siehe Beßlich 2007.

200.
JGB 200 geht vom Befund innerer Disparität der Menschen in Zeitaltern der
„Auflösung“ aus, die sich in der Gegensätzlichkeit von Trieben und morali-
schen Orientierungen manifestiert, wie sie in einem Individuum aufbricht.
„[Durchschnittlich“ (120, 30) werde dies zu einer Schwächung der Menschen
führen, weil sie aus ihrer zehrenden inneren Gegensätzlichkeit heraus bloß
nach dem Glück der Ruhe und Abspannung verlangten. Daneben gäbe es frei-
 
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