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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0560
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540 Jenseits von Gut und Böse

lieh noch eine andere Art Menschen, auf die diese Gegensätzlichkeit nicht er-
schöpfend, sondern vielmehr stimulierend wirke. JGB 200 illustriert dies mit
einer ganzen Reihe als groß geltender Individuen aus unterschiedlichen Epo-
chen, so dass sich der Leser erstens fragt, welche historischen Perioden denn
keine „Auflösungs-Zeitalter“ (120, 24) waren, und zweitens, ob durch die Er-
möglichung von derart „zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen“
(121,11) nicht jedes „Auflösungs-Zeitalter“ unter den Prämissen des Textes hin-
reichend gerechtfertigt sein, ja als höchste Wünschbarkeit erscheinen müsste.
JGB 200 legt der historischen Analyse ein biologisches Reiz/Reaktionssche-
ma zugrunde, das die Menschen danach kategorisiert, wie sie mit dem steten
Reiz innerer Disharmonie umgehen. Auf manche, eben auf die sich dadurch
als groß erweisenden Individuen wirke „der Gegensatz und Krieg in einer sol-
chen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr“ (121, 5-7). Dies lehnt sich
an Überlegungen an, die N. beispielsweise aus der Lektüre von Wilhelm Roux’
Der Kampf der Theile im Organismus gekannt haben dürfte. Dieser handelte
eigentlich von Zellen, „deren Lebenskraft durch die Zufuhr von verschiedenen
oder blos einem besonderen Reiz erhöht wurde“, so dass „immer diejenige Va-
riation in den Zellen den Sieg und die Alleinexistenz erlangen, wel-
che den Reiz leichter aufnahm, denn sie wurde zufolge dieser Eigen-/81/
schäft in ihrer Vitalität mehr gekräftigt und musste sich also mehr vermehren“
(Roux 1881, 80 f.). Roux seinerseits übertrug die Kriegsmetapher auf die Biolo-
gie, die er als „eine Art Kampf um den Reiz“ (ebd., 81) beschwor. JGB
200 wird die Kriegsmetapher durch den Re-Import ins Sozial-Politische partiell
wieder entmetaphorisieren. Nach Roux geschieht bei den Zellen das, was N.s
Text bei den „Unausdenklichen“ meinte beobachten zu können: „Wenn nun
diese Reize dauernd einwirkten, so war bei weiteren Variationen mit der sich
steigernden Vollkommenheit der Anpassung der Stoffe an die Reize durch im-
mer neue Kampfauslese in den Zellen der Weg zu einem schliesslichen Endsta-
dium eingeschlagen, in welchem Processe übrig bleiben mussten, welche im
höchsten Maasse zur Aufnahme des Reizes befähigt und durch ihn gekräftigt
wurden, aber ohne den Reiz nun auch überhaupt nicht mehr sich
am Leben zu erhalten vermochten, welche also beim Ausbleiben der
Reize sich ohne Regeneration verzehren, schwinden mussten, da ihnen diese
Reize zu unentbehrlichen Lebensreizen geworden sind. / Wir
werden später sehen, wie wichtig eine so hochgradige Anpassung für die Ver-
vollkommnung und die Gestaltung der Organismen werden musste“ (Roux
1881, 81). Was Roux für die Zellen recht war, konnte N. für die großen Individu-
en nur billig sein.
120, 24 f. welches die Rassen durch einander wirft] „Rasse“ ist hier offensicht-
lich nicht primär biologistisch gemeint, vgl. etwa NK 80, 12-24.
 
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