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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0580
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560 Jenseits von Gut und Böse

wird konträr zu diesem Eindruck argumentiert, die Philosophie habe schon
lange ihren Rang eingebüßt, und die „Armseligkeit der neueren Philosophen“
(131, 3f.) reiche nicht einmal von Ferne an die „königlichen und prachtvollen
Einsiedler des Geistes“ (131, 9) heran, die das griechische Altertum geboten
habe. Diesen Geisteseinsiedlern habe die „Herren-Aufgabe und Herrschaftlich-
keit der Philosophie“ (131, 26 f.) noch deutlich vor Augen gestanden, während
die Philosophen der Gegenwart mit »schwindsüchtigen4 Disziplinen wie Er-
kenntnistheorie ihre Ohnmacht, ja ihre „Agonie“ (132, 3) schmerzhaft deutlich
demonstrierten. Was zu Beginn des Abschnitts wie ein sich gegenwärtig voll-
ziehender Prozess anmutet, erweist sich im weiteren Verlauf als eine Jahrtau-
sende umspannende Entwicklung, bei der weniger eine direkte Auseinander-
setzung von Wissenschaft und Philosophie als vielmehr ein selbstverschulde-
ter, innerer Kräftezerfall für das Elend der Philosophie verantwortlich ist.
Obwohl das „Ich“ gemäß den Anfangssätzen der „Rangverschiebung“ (129, 7)
entgegentreten will und mit Honore de Balzac seine eigenen Wunden zur
Schau stellt, dominiert am Ende der Eindruck, diese „Rangverschiebung“ sei
nicht nur längst vollzogen, sondern angesichts des desolaten Zustandes heuti-
ger Philosophie ebenso unvermeidlich wie wünschenswert. Offensichtlich visi-
oniert das sprechende Ich eine völlig neue Art herrschaftlicher Philosophie.
Gleich der Beginn von JGB 204 markiert, dass sich das Ich nicht mit bloßem
Diagnostizieren bescheiden, sondern einer bestimmten, demokratisch-nivellie-
renden Zeittendenz entgegentreten will, eben der „Rangverschiebung“ zwi-
schen Wissenschaft und Philosophie. Dass der Philosophie die Priorität gebüh-
re, und zwar entgegen den demokratischen und wissenschaftlichen Überzeu-
gungen der Gegenwart, und damit entgegen der herrschenden Moral, ist für
den Sprechenden keine Frage. Das Ich positioniert sich gegen die herrschende
Moral; es präludiert so den Philosophen als Gesetzgeber.
129, 4-6 Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das heraus-
stellt, was es immer war — nämlich als ein unverzagtes montrer ses plaies, nach
Balzac] Vgl. die Vorstufe in KGW IX 5, W I 8, 165, 12-16. Der erste Abschnitt
des Sechsten Hauptstücks setzt gleich mit einer gelehrten Anspielung ein. N.
verarbeitete dabei - ebenfalls ganz nach Gelehrtenmanier - ein früheres Ex-
zerpt, nämlich NL1881, KSA 9,15 [72], 658: „Balzac: pour moraliser en litteratu-
re, le procede a toujours ete de montrer la plaie“. Das Zitat stammt, wie
Campioni/Morillas Esteban 2008, 275 nachweisen, ursprünglich aus Honore de
Balzacs in der Semaine vom 11. Oktober 1846 erschienener Lettre ä Hippolyte
Castille: „Moraliser son epoque est le but que tout ecrivain doit se proposer,
sous peine de n’etre qu’un amuseur de gens; mais la critique a-t-elle des proce-
des nouveaux ä indiquer aux ecrivains qu’elle accuse d’immoralite? Or, le pro-
cede ancien a toujours consiste ä montrer la plaie. Lovelace est la plaie dans
 
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