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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0591
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Stellenkommentar JGB 208, KSA 5, S. 136-137 571

Gewissens zu wahren weiß sagt heute nicht ,Nein4 sondern ,ich traue mir darin
nicht4. Oder: ,hier ist die Thür offen, wozu gleich eintreten? Wozu diese schnel-
len Hypothesen? wozu durchaus etwas Krummes rund machen? wozu ein Loch
mit ihrem irgend welchem Werge ausstopfen? Warten wir doch noch etwas:
Das Ungewisse hat auch seine Reize; die Sphinx ist auch reine'' Circe4. Also
tröstet sich ein Skeptiker, - und es ist wahr, daß er einigen Trost nöthig hat.
Skepsis nämlich ist der Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen
Beschaffenheit, wie sie sich bei einer großen und plötzlichen Kreuzung von
Ragen und Ständen entwickelt. Die vererbten Werthschätzungen verschiedener
Herkunft sind miteinander im Kampf, sie stören sich gegenseitig am Wachsen,
am Starkwerden, es fehlt in Leib und Seele an Gleichgewicht, an Schwerge-
wicht, an perpendikulärer Sicherheit. Was in solchen Misch-Versuchen der Na-
tur am M meisten sich zerfasert und schwach wird ist der Wille; die alte Unab-
hängigkeit und Ursprünglichkeit des Entschlusses ist dahin. Niemand kann
mehr für sich selber gut sagen. Daher allgemeine Gespensterfurcht vor großer
und kleiner Verantwortlichkeit, daher ein leidenschaftlicher Hang seinen Kopf
und sein Gewissen in irgend einer Mehrzahl unter zu stecken. Wem aber heut-
zutage ein starker befehlerischer und verwegener Wille vererbt ist, - der Zufall
läßt dergleichen Ausnahmen zu - der hat auch größere Hoffnungen als je, es
zur Herrschaft zu bringen. Die unsichere Art der Meisten verlangt und schreit
nach Solchen, die unbedingt befehlen.44 Vgl. N.s Diktate in Dns Mp XVI, BL 43r
u. 44r bei Röllin 2012, 218 f.
JGB 208 diagnostiziert als ,,europäische[.] Krankheit“ „Skepsis und Wil-
lenslähmung“ (139, 3f., vgl. auch Lampl 1989, 579-581). Diese Krankheit wie-
derum weist zurück auf ein Ausgangsproblem in der Vorrede von JGB, nämlich
auf das Problem von Spannung und Abspannung. Beredter Ausdruck der Wil-
lenslähmung scheint eine um sich greifende Skepsis (vgl. Tongeren 2000,148-
154; zur Skepsis zu N.s Zeit vgl. Hellwald 1875, 791 f.), die der Zeitgeist als ein-
zig angemessene Form der Philosophie gutheiße, gebe es doch „anerkannter-
maassen heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den
sanften holden einlullenden Mohn Skepsis“ (137, 17-19). Diese Skepsis enthält
sich (im Gefolge des Pyrrhonismus) jeder eigenen Wertsetzung; besonders
schreckt sie vor dem harten Nein zurück. Sie vermag jene in der Vorrede thema-
tisierte Spannung nicht auszuhalten. Die europäische Krankheit von Skepsis
und Willensschwäche präge sich je nach kultureller Entwicklung unterschied-
lich aus: Im modernen Frankreich grassiere sie am schlimmsten, während sich
in Russland ein ungeheures Willenspotential aufgestaut habe, das nur darauf
warte, aktualisiert zu werden: Am Ende fällt das berühmt-berüchtigte Schlag-
wort der „grossen Politik“ (140, 13). Hatte sich das Sechste Hauptstück bis da-
hin so gelesen, als ob hier eine Einführung in die Philosophie der Zukunft,
 
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