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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0592
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572 Jenseits von Gut und Böse

nämlich als gesetzgebende Geisteskraft gegeben werden solle, wechselt JGB
208 jäh ins Politische. Die Wendung zum Politischen ist ein Bruch eingespielter
Diskursregeln innerhalb einer philosophischen Auseinandersetzung: Durchset-
zen soll sich nicht, was die besseren Argumente, sondern, was den stärkeren
Willen hat. Wird verlangt, dass eine Philosophie darauf hinzuwirken habe,
dass ganz Europa „Einen Willen“ (140, 6) bekomme, dann bedeutet dies
die triumphale Rückkehr Platons ins intellektuelle Tagesgeschäft.
Zwar entfallen die metaphysischen Spezifika des Platonismus, die JGB Vor-
rede als gefährliche Irrtümer gebrandmarkt hat, nicht aber dessen dominieren-
des Strukturelement, möglichst alle Menschen dem Diktat der Philosophie zu
unterwerfen. Politikfähigkeit, der Nutzen für die Gestaltung des Politischen im
Großen wird in JGB 208 Kriterium für die Tauglichkeit einer philosophischen
Haltung. Gesetzt, N.s Leser haben sich weder davon überzeugen lassen, dass
jetzt der eine Wille und eine neue europäische Herrscherkaste nottäten, noch
davon, dass Russland (die Willensdisgregation in) Europa bedrohen werde, so
bleibt bei diesen Lesern doch vor allem die Ratlosigkeit zurück, wie sie sich
denn nach der Makulierung alteuropäischer Überzeugungen denkend und
handelnd zu verhalten hätten, wo doch die Haltung skeptischen Abwartens
nur Spott erntet. Genau in der Erzeugung dieser Ratlosigkeit liegt die performa-
tive Pointe von JGB 208, denn die Ratlosigkeit münzt sich in Spannung um,
quasi als individuelles Analogon zur kulturellen Spannung, die gemäß der Vor-
rede von JGB erst intellektuelle Produktivität ermöglicht. Die Leser werden in
die Spannung der Erwartung versetzt, worin denn die Alternative zu der so
naheliegend erscheinenden resignativen Skepsis bestehen könnte. Auch wenn
die nächsten Abschnitte mit Antworten aufwarten, stellen sie doch keine Ab-
spannung in Aussicht (nach Sommer 2007).
137,10-15 Es ist ihnen, als ob sie, bei seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne
her irgend ein böses bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer
Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes
Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss Nein sagt,
Nein will, sondern — schrecklich zu denken! Nein thut.] Des 1866 erfundenen
Dynamits bedienten sich politische Anarchisten für ihre Attentate, so dass der
verhältnismäßig leicht und sicher handhabbare Sprengstoff zum Inbegriff für
Aufrührertum wurde: Am 9. Juni 1884 erließ das Deutsche Reich ein Gesetz
gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Spreng-
stoffen, das gemeinhin „Dynamitgesetz“ genannt wurde. Während in 137, 10-
15 noch an eine terroristische Verwendung des Dynamits gedacht wird, sollte
Josef Viktor Widmann in seiner Besprechung von JGB für die Berner Zeitung
Der Bund am 16./17. September 1886 (Widmann 1994) die Dynamit-Metaphorik
aus JGB 208 aufgreifen, sie jedoch zivilisieren, indem er das für den Bau der
 
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