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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0593
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Stellenkommentar JGB 208, KSA 5, S. 137 573

Gotthardbahn nötige Dynamit in Erinnerung rief. N. liebte es fortan, diese Re-
zension zu zitieren und sich selbst mit Dynamit zu identifizieren; dabei stellte
er dem Leser die Bewertung anheim, ob der Sprengstoff zu destruktiven oder
konstruktiven Zwecken verwendet werde. Vgl. NK KSA 6,136, 17-21; NK KSA 6,
132, 17 u. NK KSA 6, 365, 7 f. Dynamit als Selbstdeutungsschema wird aller-
dings auch gegen N. gewendet, so in der Schlusspointe von Rudolf Augsteins
SpzegeZ-Invektive gegen den „Denker Nietzsche“ und den „Täter Hitler“: „»Dy-
namit4, wonach Nietzsche lechzte, war der Täter Hitler. Er, der Schreibtäter
Nietzsche, war es nicht“ (Augstein 1981, 184).
Angelehnt an Paul de Lagardes antisemitische Wortprägung „judainfrei“
(Lagarde 1878, 1, 31) benutzte N. 1888 das Substantiv „Judain“ (vgl. NK KSA 6,
240, 5) und bildete in Analogie dazu adjektivische Komposita mit „moralin...“
(vgl. NK KSA 6, 18, 19). „Nihilin“, gebildet aus dem lateinischen Wort „nihil“
für „nichts“, paart sich mit Judain und Moralin, wenngleich Nihilin bereits
zwei Jahre vor diesen beiden auftauchte. Auch einen Anklang an Nitroglycerin,
aus dem man Dynamit macht, mag in „Nihilin“ zu vernehmen sein. Die russi-
schen Nihilisten waren rasch nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten,
mit Attentaten bei der Hand, also Exempeln für das „Nein thu[n]“: Beispiels-
weise fiel 1881 Zar Alexander II. einem nihilistischen Dynamit-Attentat zum
Opfer. Die europäische nihilistische und wahlweise pessimistische Stimmung
konnte N. etwa bei Bourget 1883,15 im kulturdiagnostisch ausgreifenden Essay
über Baudelaire aufsaugen: „Une nausee universelle devant les insuffisances
de ce monde souleve le coeur des Slaves, des Germains et des Latins, et se
manifeste, chez les premiers par le nihilisme, chez les seconds par le pessimis-
me, chez nous autres par de solitaires et bizarres nevroses. La rage meurtriere
des conspirateurs de Saint-Petersbourg, les livres de Schopenhauer, les furieux
incendies de la Commune et la misanthropie acharnee des romanciers natura-
listes, - je choisis avec intention les exemples les plus disparates, - revelent
ce meme esprit de negation de la vie qui, chaque jour, obscurcit davantage la
civilisation occidentale.“ („Ein universeller Ekel angesichts der Unvollkom-
menheiten dieser Welt erhebt das Herz der Slaven, der Germanen und der La-
teiner und zeigt sich bei den ersten durch den Nihilismus, bei den zweiten
durch den Pessimismus, bei uns anderen durch einsame und bizarre Neuroti-
ker. Die mörderische Wut der Verschwörer von Sankt Petersburg, die Bücher
von Schopenhauer, die fürchterlichen Brände der Commune und die verbitterte
Misanthropie der naturalistischen Romanciers - ich wähle mit Absicht die auf-
fälligsten Beispiele - offenbaren den gleichen Geist der Lebensverneinung, der
jeden Tag die abendländische Zivilisation mehr verdunkelt.“) Streng genom-
men ist das Wort „Nihilin“ kein Neologismus N.s; Eugene Combes (Franck de
Sombec) empfahl schon 1869 „Nihiline“ in seiner Abrechnung mit den Zustän-
 
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