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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0596
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576 Jenseits von Gut und Böse

gensätzen: Rassen-Mischungen dazu.“ NL 1884, KSA 11, 25[211], 69, 22f. Vgl.
NL 1884, KSA 11, 25[413], 120, 7-11). N.s freihändiger Gebrauch von „Rasse“
und „Mischung“ unterminiert Versuche, eindeutig zu bestimmten, was denn
genau unter „Rasse“ zu verstehen sei: Sowohl in 138, 25-28 als auch in 158, 3-
5 werden den Rassen jeweils die „Stände“ zur Seite gestellt, in JGB 208 unter-
streicht das gesperrte „folglich“ noch den genuinen Zusammenhang beider
Größen: Sind Ständeunterschiede nichts weiter als Rassenunterschiede? Der
Text verweigert hier die Auskunft darüber, was eine Rasse ausmacht - ob sie
ein biologisch, ein sozial oder gar ökonomisch bestimmtes Gebilde ist. Diese
Offenheit und Unbestimmtheit des Rassenbegriffs scheint ebenso kalkuliert
wie das Schwanken, ob denn eigentlich Rassenmischung etwas für die Höher-
züchtung des Menschen Gebotenes oder aber Verabscheuungswürdiges dar-
stelle: N. griff mit der Rede über die Rassen und ihre Mischung überaus populä-
re Schlagworte aus dem zeitgenössischen Diskurs auf, prägte sie aber nicht wie
im Falle anderer Begriffe für seine Zwecke um, sondern behielt ihre wabernde
Unschärfe bei, so dass dem Leser, ganz egal, wie er sich in der ,Rassenfrage4
selbst positioniert, anheimgestellt wird, in N.s Texten das zu finden, was seinen
eigenen Präferenzen entspricht, sei dies nun eine forcierte Rassenvermischung
oder eine ebenso forcierte Rassentrennung. Die Unschärfe ist quasi eine Einla-
dung an die Leser, sich an minder wichtiger Stelle in N.s Texten heimisch zu ma-
chen. Das Reden über Rasse gehört zu N.s temptatorischem Repertoire.
In manchen der von N. benutzten Werke zur Ethnologie und Anthropologie
wurde die Mischung menschlicher Rassen ausdrücklich begrüßt, so in Fried-
rich Ratzels Anthropo-Geographie: „Wenn Rassenmischung unter dem Mitein-
fluss stählender Natur- und Gesellschaftsverhältnisse günstig auf die Fortbil-
dung der Menschheit einwirkt, dann ist es kein Zufall, dass die Wurzeln der
grössten Kulturvölker Europas in dieses vielbewegte innerasiatische Völker-
meer hineinreichen.“ (Ratzel 1882, 224, vgl. NL 1885/86, KSA 12, 1[153], 45,
10 f. = KGW IX 2, N VII 2, 101, 22-28 und Orsucci 1996, 347-350.) Dabei war es
damals fast selbstverständlich, dass eine Darstellung der Kulturgeschichte die
Frage der menschlichen Rassen und ihrer Unterschiede ausgiebig erörterte
(Hellwald 1876-1877a, 1, 57-65). Friedrich von Hellwald markierte die exakte
Gegenposition zu Ratzel freilich nicht nur dadurch, dass er den Begriff der
Menschenrassen biologisch fasste, sondern auch dadurch, die Vermischung
der Rassen für verderblich zu halten. Für „die Gleichheit der Racen“ sei „kein
Beweis erbracht. Vielmehr lässt sich die Unmöglichkeit, jemals eine solche
Gleichheit zu erreichen, an einem Beispiele trefflich erweisen. Sicherlich kön-
nen die weisse und die schwarze Race — um zwei Extreme zu wählen — heute
beide einen höheren Standpunct einnehmen, als beide vor einem Jahrtausend;
allein genau so wie vor einem Jahrtausend wird auch gegenwärtig eine tiefe
 
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