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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0612
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592 Jenseits von Gut und Böse

reichs und Deutschlands erfreuen] Wie schon in dem zuvor kommentierten Pas-
sus 143, 19-25 scheint das in Anführungszeichen Gesetzte kein eigentliches Zi-
tat zu sein, denn in KGW IX 4, W I 6, 7, 2 (s. o. NK ÜK JGB 210) heißt es statt-
dessen: „»Philosophie ist Wissenschaft und Kritik und nicht mehr“4. Die umfas-
sendere (aber nach dem hier Gesagten nicht hinreichende) Bestimmung von
Philosophie als Wissenschaft passt auch besser zu den „Positivisten“, denen
Kritik gemeinhin nur ein sekundäres Anliegen war. Die Engführung von Philo-
sophie und Kritik im Unterschied zur Vorarbeit in W I 6 dient der thematischen
Vereinheitlichung des Abschnitts: JGB 210 soll einerseits zeigen, inwiefern die
Philosophen der Zukunft Kritiker sind, aber auch, inwiefern sie es gerade nicht
sind. Philosophie auf „Kritik“ zu reduzieren, mag unter manchen Neukantia-
nern durchaus Programm gewesen sein, die sich durch N.s Verkürzung seiner
ursprünglichen Vorfassung jetzt unvermutet als „Positivisten“ apostrophiert
sahen (KGW IX 4, W I 6, 7, 6 spricht in Anspielung auf Dühring und Teichmül-
ler ausdrücklich von „Wirklichkeits=Philosophen und »wissenschaftlichen Phi-
losophen4“). Diese Verkürzung erzeugt eine scharfe polemische Spitze, denn
selbstredend verstanden sich weder Neukantianer noch „Wirklichkeits=Philo-
sophen“ als „Positivisten“.
144,1-4 (— und es wäre möglich, dass sie sogar dem Herzen und Geschmacke
Kant’s geschmeichelt hätte: man erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke — 9]
Nämlich Critik der reinen Vernunft (1781 u. 1787), Critik der practischen Vernunft
(1788) und Critik der Urtheilskraft (1790).
144, 6 f. Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker.]
Vgl. die in NK 24,13-26 mitgeteilte Aufzeichnung NL 1885, KSA 11, 34[183], 483
(KGW IX 1, N VII 1, 65). Aus der zeitgenössischen Literatur wie beispielsweise
Hellwald 1876-1877a, 1, 152 und Mill 1869-1880,1, 75 (vgl. die Quellenauszüge
in NK KSA 6,142, 29 u. NK KSA 6,177,14-16) war N. ein Bild des Chinesentums
geläufig, in dem die fraglose Pflichterfüllung, die Minimierung individueller
Differenz zwischen Menschen und die von keiner Irritation behelligte Ruhe be-
stimmende Züge waren (vgl. NL 1884, KSA 11, 26[417], 263, 2-4 im Anschluss
an Galiani). „Chineserei“ wird so zum Schimpfwort für eine Entwicklung hin
zur Armseligkeit, die Europa drohe (vgl. NK KSA 6, 369, 9 f.). In FW 377, KSA
3, 629, 15 wird „Chineserei“ synonym verwendet zum „Reich der tiefsten Ver-
mittelmässigung“, hervorgegangen aus dem ,Reich der Mitte4, als das sich Chi-
na traditionell verstand. AC 11, KSA 6, 177, 14-16 verschärft den in JGB 210
angeschlagenen unfreundlichen Ton gegenüber Kant: Nun sind es „Hirnge-
spinnste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens, das
Königsberger Chinesenthum ausdrückt“, sprich: Nivellierung und Egalisierung
der Menschen unter der Tyrannei einer unpersönlichen PflichtmoraL
 
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