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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0614
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594 Jenseits von Gut und Böse

vor allem Andern, welche neue Werthe schafft.“ Entsprechend konnte Hell-
wald 1883-1884,1,186 gegen den Buddhismus als „Religion, welche die Glück-
seligkeit in der Ruhe, der Unthätigkeit sucht“, polemisieren, sei sie doch „eine
geborene Feindin der Arbeit, die allein Werthe schafft“. Dabei scheint im Kai-
serreich vom sozialistischen bis ins konservativ-reaktionäre Lager ein breiter
Konsens gereicht zu haben, wonach Arbeit allein wertschaffend sei (vgl. auch
Lotze 1884, 84 u. Hartmann 1885,115), so dass Lagarde 1878-1881, 2,100 diese
Überzeugung zur selbstverständlichen Voraussetzung einer zu gründenden
,,conservative[n] Partei“ erklären konnte, die „an dem Tage entstehn“ werde,
„an welchem als unwiderrufliches Grundgesetz unsres Lebens verkündet wor-
den ist, daß nur persönliche, verantwortliche, planmäßige Arbeit Werthe
schafft“. Ersichtlich wird »Wert4 in diesem Kontext als »wertvolles, werthaltiges
Produkt4, als »etwas von Wert4 verstanden, nicht als der Maßstab, nach dem
ein Produkt allererst zu beurteilen wäre. N. nahm diesen zeitgenössischen
Sprachgebrauch beim Wort, verpflanzte das Wertschaffen in einen allgemeine-
ren Rahmen, so dass der Gegenstand des Schaffens nicht länger werthaltige
Produkte sind, sondern Werte qua Maßstäbe aller moralischen Beurteilungen.
Im kritisch-skeptischen Geschäft der Zerstörung bislang gültiger Maßstäbe er-
schöpft sich die Aufgabe des Philosophen jedenfalls nicht: „Neue Werthe
schaffen - das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen
zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des Löwen.“ (Za I Von den drei
Verwandlungen, KSA 4, 30, 25-27, vgl. auch Za III Von alten und neuen Tafeln
26.) Wer Werte als Maßstäbe aller Beurteilungen zu schaffen vermag, ist Ge-
setzgeber, Künstler und Philosoph in Personalunion: Die Rahmenverschiebung
des Wertschaffens besteht also in der Erweiterung des politisch-ökonomischen
Diskurses um eine reflexive, eine kreative und eine legislatorische Dimension.
Der Philosoph soll künftig nicht derjenige sein, der einfach nur etwas hervor-
bringt, was nach geltenden Maßstäben als wertvoll gilt, sondern derjenige, der
diese Maßstäbe selber hervorbringt.
Trotz mancher Ansätze in der Stoa (und bei Kant) werden erst im 19. Jahr-
hundert, namentlich bei Hermann Lotze, „Werte“ zu einem Zentralbegriff der
Philosophie. Dass es sich bei den „Werten“ in der Philosophie um einen begriff-
lichen Import aus der Ökonomie handelt, ist offenkundig und provoziert die
Frage, was von Philosophien zu halten ist, die sich von ökonomischem Voka-
bular bestimmen lassen. N.» dem die philosophische Rede von den Werten
schließlich ihre große Popularität verdanken sollte, ist der schon fast selbstver-
ständliche Gebrauch des Wertbegriffs namentlich von seinem frühen Leit- und
Leibphilosophen Friedrich Albert Lange eingeträufelt worden (vgl. NK16,19 f.).
Welche Art Objekte „Werthe“ sind und welcher ontologische Status ihnen in
einer perspektivischen Denkweise zukommt, bleibt bei N. ebenso im Halbdun-
kel wie die unfeine Abkunft der „Werthe“-Rede (vgl. Sommer 2016).
 
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