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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0618
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598 Jenseits von Gut und Böse

das Sechste Hauptstück über das, was die Philosophen der Zukunft zu sagen
haben werden, hinreichende Auskunft gibt. Einerseits erscheint Philosophie
folglich als Produkt historischer Kontingenz - und ihre zweifelhafte Geburt bei
den Griechen, namentlich bei Sokrates und Platon, macht in JGB 212 sinnenfäl-
lig, dass sie von Motiven durchdrungen sein kann, die denen der Zukunftsphi-
losophen genau entgegengesetzt sind. Andererseits ist sie etwas, was herr-
schen, die Kontingenz in Schach halten, sogar formen soll - ein Instrument
für den Gestaltungs- und Gesetzgeberwillen willensstarker Individuen. Zwar ist
die neue starke Skepsis von JGB 209 dem dogmatischen Philosophieren, gegen
das sich bereits die Vorrede von JGB verwahrt hat, genau entgegengesetzt. Je-
doch bleibt auch die neue Philosophie in ihrem Gesetzgebungsanspruch der al-
ten Maßlosigkeit verpflichtet, die schon Platons Philosophiebegriff eigen war.
145, 23 f. sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute] In N.s Spätwerk ist
das „Ideal“, in dem sich das Hassenswürdige extrem verdichtet, wiederholt
Gegenstand sarkastischer Ausfälligkeiten, vgl. z. B. NK 86, 22 f.; NK 96, 13 f.;
NK KSA 6, 61, 4f. u. NK KSA 6, 131, 4-7.
145, 24-30 Bisher haben alle diese ausserordentlichen Förderer des Menschen,
welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weis-
heit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühl-
ten -, ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber
die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein]
Vgl. NK KSA 6, 12, 17-23 u. Stegmaier 2012, 195-199. Der Gedanke, dass die
Philosophen Förderer der Menschheit, Philanthropen sein sollen, hat sich mit
der Aufklärung eingebürgert und wird an dieser Stelle ironisch gebrochen, und
zwar durch die charakteristische Abweichung, nun nicht mehr die Menschheit,
sondern den Menschen der Förderung teilhaftig werden zu lassen: Gemeint ist
nach dem Vorangegangenen offensichtlich nicht jeder Mensch ohne Ansehen
der Person, sondern der herausragende, der große Mensch, womit das aufklä-
rerische Gleichheitsstreben (vgl. 147, 3 f.) einmal mehr konterkariert wird. Dass
der Philosoph in Wahrheit ein Idiot oder ein Narr sei, grundiert seit Sokrates
das philosophische Selbstverständnis (vgl. NK 48, 11-14 u. Sommer 2010d, sie-
he auch Lehmann 1879, 27: „Neuer Medicus, muß einen neuen Kirchhof ha-
ben, / Neuer Philosophus, muß eine neue Narrenkappe haben.“ Zum „Frage-
zeichen“ siehe z. B. NK KSA 6, 393, 7). 145, 24-30 variiert zudem eine Überle-
gung in § 264 des zweiten Bandes von Schopenhauers Parerga und
Paralipomena (Kapitel XXII: Selbstdenken): „Die Gelehrten sind Die, welche in
den Büchern gelesen haben; die Denker, die Genies, die Weiterleuchter und
Förderer des Menschengeschlechts sind aber Die, welche unmittelbar im Buche
der Welt gelesen haben.“ (Schopenhauer 1873-1874, 6, 527) Über das Men-
schengeschlecht mochte N. nicht mehr reden, vgl. aber NK 146, 7-12.
 
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