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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0626
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606 Jenseits von Gut und Böse

auch wenn die folgenden Abschnitte Tugendkandidatinnen in bunter Folge
durchmustern. Erst in der Mitte des Hauptstücks (vgl. Tongeren 2014, 149 f.),
nämlich in JGB Hl, kommt die Redlichkeit als ernsthafte Aspirantin auf die
Stellung einer Leittugend zur Sprache, während JGB 224 den „ hi stör i-
sche[n] Sinn“ (157, 28) immerhin in den Horizont möglicher Tugenden
rückt, ihn aber dennoch für eine unvornehme Haltung hält. In der Mehrzahl
der Abschnitte dieses Hauptstücks taucht weder das Wort „Tugend“ auf, noch
ist zu erkennen, dass es in der Sache um „Tugend“ ginge. „Unsere Tugenden“
sind eher eine Art Leitmotiv, das keineswegs überall und unentwegt zu Gehör
gebracht werden muss. Namentlich die Schlussabschnitte, die sich mit der so-
genannten Frauenfrage beschäftigen, scheinen gelegentlich wie aus Verlegen-
heit in das Hauptstück über „unsere Tugenden“ eingerückt, da dieser Frage
entgegen früherer Pläne in JGB kein eigenes Kapitel zugebilligt wird. Die den
Frauen zugemutete Tugend ist vor allem die des Schweigens (vgl. NK 172, 7-
12). Zu „unseren Tugenden“ gehört im Potpourri des Siebenten Hauptstücks
wohl vor allem das Provokationsvermögen. Vgl. ausführlich Tongeren 2014.

214.
JGB 214 nimmt in der ersten Zeile die Ankündigung im Titel des Siebenten
Hauptstücks von „unseren Tugenden“ zu handeln, fragend auf: „Unsere Tu-
genden?“ (151, 4) Der Abschnitt verweigert die Auskunft darüber, was diese
Tugenden seien, obgleich es „wahrscheinlich“ (151, 4) sei, dass auch dieses
„Wir“ noch Tugenden habe, die sich von den herkömmlichen Tugenden „unse-
re^] Grossväter“ (151, 7) unterschieden. JGB 214 dient der Ankündigung, sich
auf die Suche nach diesen „unseren Tugenden“ begegeben zu wollen - wobei
es in der Schwebe bleibt, ob diese Suche nicht selbst womöglich zur „Kunst der
Verkleidung“ (151, 10 f.) gehört, zumal das „Wir“ dem Glauben an die Tugend
misstrauisch gegenübersteht und ihn für das Überbleibsel früherer Denk- und
Glaubensmuster hält. Indessen gibt JGB 214 das Programm für die folgenden
Abschnitte vor, die Tugendkandidatinnen auskundschaften. Vgl. Tongeren
1989, 121-129.
151, 8 f. Wir Europäer von Übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhun-
derts] Wendungen wie diese werden bis heute gerne bemüht, um N. als „guten
Europäer“ (vgl. JGB 241, KSA 5, 180, 18) auszuweisen, der die nationalstaatli-
che Fixierung seiner Zeit prophetisch transzendiert habe. Allerdings geht es
bei N. keineswegs um das, was man im späten 20. und im 21. Jahrhundert als
europäischen Wertekonsens auszugeben pflegt: Weder das tugendaffine „Wir“
von JGB 214 (vgl. NK 151, 18-24) noch die Philosophen der Zukunft, die auch
 
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