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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0628
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608 Jenseits von Gut und Böse

Urtheil ist pessimistischen Gewohnheiten hingegeben, sie legen sich alles ego-
istisch aus und sie verachten alles Egoistische. [...] Es sind die, welche an
eine Tugend glauben, die es nicht giebt und geben kann! Sie sind
redlich, aber haben von ihrer Redlichkeit nur Qual, und Ekel an sich“ (KSA 9,
241, 6-15). N. nahm hier das Vokabular vorweg, das Paul Ree in seiner Entste-
hung des Gewissens 1885 in ein Begriffsraster gießen sollte: „Das Gewissen
ist ein Bewusstsein, welches die einen Handlungen für löbliche, andere für
tadelnswerthe erklärt.“ (Ree 1885, 251 = Ree 2004, 353) Nach Ree ist „das Be-
wusstsein der Löblichkeit die Form des guten Gewissens“ (Ree 1885, 8 = Ree
2004, 216). In NL 1880, KSA 9, 6[173] fehlt ein „Wir“, das sich über die Bedin-
gungen seiner eigenen Möglichkeit Rechenschaft abgäbe; als „höher“ gelten
diejenigen, die (wie Ree) die egoistische Motivation alles Handelns erkannt
haben, aber noch immer (wie Schopenhauer) einer Tugend nachjagen, die im
Unegoistischen liegt. Eine solche Tugend gebe es aber nicht, während das
„Wir“ in JGB 214 den Glauben an die Tugend noch nicht prinzipiell aufzukündi-
gen vermag.
151, 22 f. langschwänzige Begriffs-Zopf\ Der Zopf steht für die Haar- und Perü-
ckenmode des Ancien Regime sowie der (preußischen) Soldaten (auf dem
Wartburgfest 1817 fand als Ausdruck des burschenschaftlichen Aufbruchswil-
lens eine Soldatenzopfverbrennung statt); die Redewendung „einen alten Zopf
abschaffen“ war daher geläufig, als N. den Zopf zum „Begriffs-Zopf“ auscoif-
fierte, um die intellektuellen und moralischen Gewissheiten der „Grossväter“
(151, 23) kahl zu rasieren. Georg Christoph Lichtenberg ironisierte in seinem (N.
vielleicht bekannten) Fragment von Schwänzen (1777) Johann Caspar Lavaters
Physiognomik mit der physiognomischen Untersuchung von Tierschwänzen
und gipfelte in der Analyse von Perücken-Zöpfen (Lichtenberg 1867, 4, 116—
119).
215.
Dieser Abschnitt illustriert, was JGB 214 anhand des anhaltenden Tugendglau-
bens des „Wir“ bereits exemplifiziert hat (vgl. NK 151,18-24), nämlich die Viel-
falt der Moralen, die auf die „modernen Menschen“ einwirken und so mitverur-
sachen, dass diese Menschen kein endgültig festgelegtes und festgestelltes We-
sen haben.
152, 5-14 Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die
Bahn Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener
Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, bald mit
grünen Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend und bunt überfluthend:
 
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