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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0642
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622 Jenseits von Gut und Böse

in dem großen Goethe, der durch seinen T a s s o, seine Iphigenie, seinen
Divan, seinen zweiten Theil des Faust, ein Mitbürger aller Nationen und
ein Zeitgenosse aller Jahrhunderte ward, der nach Belieben an allen Punkten
der Zeit und des Raumes zu leben schien und einen Begriff /48/ vom universel-
len Geiste gab.“ (Ebd., 47 f.)
In JGB 223 wird diese Analyse der historisierenden Romantik aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts auf das ganze Zeitalter bis in N.s Gegenwart über-
tragen. Damit entsteht ein direkter Widerspruch zu dem, was bei Taine folgt,
und was N. weiter mit einem Randstrich markiert hat (auch die Unterstreichun-
gen sind von N.s Hand): „Diese Literatur jedoch näherte sich mit ihrer Vollen-
dung auch ihrem Ziele und entwickelte sich nur, um zu enden. Man gelangte
zu der Einsicht, daß die versuchten Wiederbelebungen immer unvollkommen
sind, daß jede Nachahmung nur ein Abklatsch ist; daß der moderne Ton un-
fehlbar aus den Worten hervorklingt, die wir den antiken Charakteren beile-
gen, daß jedes Sittengemälde einheimisch und gleichzeitig sein muß, und daß
die archäologische Literatur eine verkehrte Gattung ist. Man fühlte zuletzt, daß
man das Bild der Vergangenheit bei den Schriftstellern der Vergangenheit su-
chen müsse, [...], kurz, daß die historische Literatur verschwinden und sich in
Kritik und Geschichte, das heißt, in Erklärung und Auslegung der Dokumente
verwandeln müsse.“ (Taine 1880a, 3, 48) Aufmerken ließ N. schließlich auf den
folgenden Seiten auch der Satz: „der Geist /51/ dieser Dichter ist nicht biegsam
genug, er ist zu moralisch“ (ebd., 50 f., N.s Unterstreichung). Wenn 157, 15 mit
einer Sperrung betont, dass das Alte und Ferne nach Auffassung des sich histo-
risch drapiertenden „Mischmenschen“ „vor allem studirt“ werden müsse,
reproduziert dies zwar die von Taine geschilderte Entwicklung von der histori-
sierenden Dichtung zur historischen Forschung, unterstellt aber, dass diese
historische Fixierung in der Gegenwart noch vorhalte, während sie für Taine
längst von einem gegenwartsbezogenen Realismus abgelöst worden ist und
eben nur das Signum einer (ebenfalls gesamteuropäischen), mittlerweile aber
schon vergangenen Kulturbewegung, eben der Romantik war.
157,11 in moribus et artibus] Lateinisch: „in Sitten und Künsten“.
157, 16-20 wir sind das erste studirte Zeitalter in puncto der „Kostüme“, ich
meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbe-
reitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigsten
Fasching-Gelächter und Übermuth] Hier überbietet das Wir N.s Quelle, Taines
Geschichte der englischen Literatur (vgl. NK157, 2-15), indem es auch „Moralen“
und „Religionen“ zu den Kostümen rechnet und damit Taines ästhetischen Ho-
rizont konsequent erweitert. Das schließt an Überlegungen an, die bereits NL
1876/77, KSA 8, 23[147], 456, 22-457, 10 formuliert hat: „Wie alte sinnreiche
 
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