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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0644
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624 Jenseits von Gut und Böse

„Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Un-
endlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren“ (160,
9-11). Die identische Metapher kann - wie oft bei N. - zur Illustration direkt
entgegengesetzter Überlegungen herhalten; die Metapher ist stärker als ihre
probehalber festgelegte Primärbedeutung und wird deshalb zur Steigbügelhal-
terin einer Sekundärbedeutung, des genauen Gegenteils.
157, 28-158,1 Der historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung
von Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesell-
schaft, ein Mensch gelebt hat, der „divinatorische Instinkt“ für die Beziehungen
dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autori-
tät der wirkenden Kräfte)] Vgl. NK 130, 28-34. Nach EH UB 1, 6, 316, 20 f. wollte
N. den „historischen Sinn“ in der Zweiten unzeitgemässen Betrachtung „zum
ersten Mal als Krankheit erkannt“ haben. Die in der zeitgenössischen Literatur
sehr häufige Wendung (vgl. die Einzelnachweise in NK KSA 6, 208, 29-209, 2)
diente beim frühen N. oft der abschätzigen Gegenwartsdiagnose (vgl. z. B. UB
II HL 3, KSA 1, 267 f.). In JGB 224 wird diese negative Bedeutung des „histo-
rischen Sinns“ relativiert, so sehr er nach wie vor als unvornehm gilt (vgl.
NL 1885, KSA 11, 35[43], 529 f. = KGW IX 4, W I 3, 88, 10-37, 89 u. 86). Zur
Interpretation siehe ausführlich NK KSA 6, 351, 5 f.
Der „divinatorische Instinkt“ stammt aus folgendem Novalis-Fragment:
„Glück ist Talent für die Historie, oder das Schicksal. Der Sinn für Begebenhei-
ten ist der prophetische, und Glück ist der divinatorische Instinct. (Die Alten
rechneten daher mit Recht das Glück eines Menschen zu seinen Talenten.) Es
giebt eine divinatorische Lust. Der Roman ist aus Mangel der Geschichte ent-
standen.“ (Novalis 1837, 2, 271) Im 19. Jahrhundert wurde der „divinatorische
Instinkt“ gelegentlich und ohne ausdrücklichen Bezug auf Novalis aufgegrif-
fen. So attestierte ihn Julian Schmidts (N. wohlbekannte) Geschichte der deut-
schen Literatur Ludwig Feuerbach (Schmidt 1858, 3, 260). Kuno Fischer recht-
fertigte sich unter Verwendung des Begriffs dafür, die „bewußtlosen und klei-
nen Vorstellungen“ bei Leibniz so ausführlich behandelt zu haben: „weil sich
hier der metaphysische Erklärungsgrund findet, warum sich in einem späteren
Geschlechte [...] die dunkle Seele, das Gefühl, der divinatorische Instinct für
sich allein die volle und ungetheilte Erkenntniß in Anspruch nahm“ (Fischer
1867, 2, 728). „Divinatorischer Instinkt“ meint von Novalis bis Fischer offen-
sichtlich die Fähigkeit zu einer unmittelbaren, unbewussten, Künftiges vor-
wegnehmenden Einsicht.
158,1-5 dieser historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Beson-
derheit Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen
Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische Ver-
 
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