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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0646
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626 Jenseits von Gut und Böse

Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhun-
derts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Aus-
klang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten, — welchen zu
geniessen sie sich kaum erlaubten.] N. hat 1869 seine programmatische Basler
Antrittsvorlesung als Philologie-Professor Homer gewidmet, die große deut-
sche Tradition der Homer-Forschung seit Friedrich August Wolf (1759-1824)
gleichzeitig aufgreifend und sie distanzierend. Die als Privatdruck unter dem
Titel Homer und die klassische Philologie erschienene Vorlesung (KGWII1, 247-
269) will dem „wunderbare[n] Genius“ (ebd., 266) des Ilias- und Odyssee-
Dichters Tribut zollen und unter seiner Flagge die Philologie zu einer schöp-
ferischen, lebensdienlichen Leitwissenschaft umgestalten (vgl. Sommer 1997,
18-29).
Dass das 17. Jahrhundert mit seinem ,,starke[n] Willen zu seinem Ja und
seinem Nein“ dem als barbarisch geltenden Homer wenig abgewinnen konn-
te, skizziert NL 1885, KSA 11, 34[20], 427, 20-24 (entspricht KGW IX 1, N VII 1,
181, 7-11). Der freigeistige Schriftsteller Charles Marguetel de Saint-Denis et de
Saint-Evremond (1613-1703) kommt in N.s Werken nur in JGB 224 vor; die einzi-
ge weitere Erwähnung findet sich in NL 1863, KGW 13,15A[1], 202,16-22, wobei
es sich dort um ein Exzerpt aus Hermann Hettners Frankreich-Band seiner Lite-
raturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts handelt. Hettner erörterte Saint-
Evremond als einen „Vorkämpfer des religiösen Freisinnes“ (Hettner 1860, 2,
38) auf zwei Seiten, thematisierte aber seinen Bezug zu Homer mit keinem
Wort. Die Stelle, auf die JGB 224 sich bezieht, steht in Saint-Evremonds Disser-
tation sur le mot vaste ä Messieurs de l’Academie frangoise von 1677 und lautet:
„Pour Homere, il est merveilleux tant qu’il est purement humain; juste dans
les caracteres, naturel dans les Passions, admirable ä bien connoitre & ä bien
exprimer ce qui depend de nötre nature. Quand son Esprit vaste s’est etendu
sur celle des Dieux, il en a parle si extravagamment, que Platon l’a chasse de
sa Republique comme un fou.“ (Saint-Evremond 1726, 4, 14. „Was Homer an-
geht, ist er wunderbar, insofern er rein menschlich ist; gerecht in den Charak-
teren, natürlich in den Leidenschaften, bewundernswert darin, das gut zu ken-
nen und gut auszudrücken, was von unserer Natur abhängt. Als sein weiter
Geist sich über die Natur der Götter erstreckt hat, hat er darüber so extravagant
gesprochen, dass Platon ihn aus seinem Staat wie einen Wahnsinnigen vertrie-
ben hat.“) Während die Vertreter der Akademie das Wort „vaste“ (ausgedehnt,
weit) allein zum Zwecke der Lobpreisung positiv genutzt wissen wollten, arbei-
tete Saint-Evremonds Dissertation dessen Nacht- und Schattenseiten heraus.
Ein „esprit vaste“ ist ein ausschweifender, ein oberflächlicher Geist. Vgl. zur
Interpretation auch Heller 1972b, 282 sowie Schank 2000, 121 u. 309.
159, 4-11 Nicht anders steht es mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-
maurisch-sächsischen Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener
 
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