Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0655
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar JGB T2J, KSA 5, S. 162-163 635

vgl. NK ÜK JGB 5. Der für JGB 227 v. a. relevante Teil lautet: „Wir wollen unsere
Redlichkeit so verfeinern u. in die Höhe treiben, daß sie wie eine goldene Spit-
ze über dem ganzen dumpfen düsteren Zeitalter stehen bleibt. Und wo sie
schwach wird oder zu zögern scheint, wollen wir unsere Neugierde unsren
Abenteurer-Muth, unsere Grausamkeit, unser ,Nitimur1 in vetitump] und alle
unsere Teufeleien ''dieser-' unserer einzigen u. letzten Tugend zu Hülfe schi-
cken: mag man sie rgar-' mit solchen Hülfstruppen verwechseln was liegt uns
daran!“ (KGW IX 2, N VII 2, 13, 30-14, 2) Auffällig ist in JGB 227 zunächst der
Vorbehalt gegenüber der Redlichkeit, „gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von
der wir nicht loskönnen“ (162, 18 f.): Auch sie scheint als felsenfestes mora-
lisch-immoralistisches Fundament für die Selbst- und Weltmodellierungsprak-
tiken nicht ohne Schwanken in Frage zu kommen; sie könnte „müde“ (162, 25)
werden und zur Dummheit verleiten, so dass „wir“ ihretwegen „zuletzt noch
zu Heiligen und Langweiligen werden“ (163,16 f.). Das Zögern gegenüber einer
restlosen Identifikation mit der Redlichkeit liegt vermutlich auch in deren mo-
ralischer Vergangenheit begründet: Fragt man mit JGB 1 nach dem Wert des
Willens zur Wahrheit, drängt sich die Frage nach dem Wert des Willens zur
Redlichkeit nachgerade auf.
JGB 227 hat mit der Insistenz auf der Redlichkeit eine Reihe philosophisch
engagierter Interpreten gefunden, vgl. Tongeren 1989, 116-121; Brusotti 1997,
673-675; Lampert 2001, 221-223; Acampora/Ansell-Pearson 2011, 159 f. u. Bru-
sotti 2013, 273-275.
162, 30 „nitimur in vetitum“] Die Devise stammt aus Ovids Amores III 4, 17f.:
„Nitimur in vetitum semper cupimusque negata / Sic interdictis inminet aeger
aquis.“ („Wir streben immer nach dem Verbotenen und begehren das, was uns
versagt wird. / So lechzt der Kranke nach dem Wasser, das ihm untersagt ist.“)
N. hat sie aber nicht bei Ovid, sondern in Galianis Brief an Madame d’Epinay
vom 13. 04.1776 gefunden und mit doppeltem Randstrich markiert: „On ne
connait pas les hommes: Nitimur in vetitum. Plus une chose est difficile, peni-
ble, coüteuse, plus les hommes l’aiment, s’y attachent, en raffolent.“ (Galiani
1882, 2, 222. „Man kennt die Menschen nicht: Nitimur in vetitum. Je schwieriger,
anstrengender, kostspieliger eine Sache ist, desto stärker lieben die Menschen
sie und hängen sich daran bis zum Wahnsinn.“) Vgl. NK KSA 6, 167, 15 f. u.
Campioni 1995, 403.
163, 7 f. Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte
Teufel?] Diese rhetorische Frage kehrt den religionsgeschichtlichen Befund um,
den N. in der zeitgenössischen religionswissenschaftlichen Literatur vielfach
finden konnte, dass nämlich die heidnischen Götter unter christlichen Vorzei-
chen zu Dämonen und Teufeln umgedeutet worden seien: „Die Gottheiten der
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften