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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0656
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636 Jenseits von Gut und Böse

Heiden als Teufel im jüdischen Sinne zu denken, hat schon Paulus eingeführt
[sc. 1. Korinther 10, 20 f.], mag er es nun schon mehr oder weniger /243/ wört-
lich genommen haben“ (Lippert 1882, 242 f.).
163, 11-17 Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, — sorgen wir dafür, dass sie
nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit wer-
de! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; „dumm bis zur
Heiligkeit“ sagt man in Russland, — sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlich-
keit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden!] Vgl. KGW IX 2, N VII 2,
104, 20-30: „Unsere Redlichkeit - sorgen wir rlie’' dafür, daß es rsie'' nicht
unsere Eitelkeit, unser Prunkgebäude, runsere Grenze'' unser Mittel der Dumm-
heit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit! ,Dumm bis zur Heiligkeit4 sagt
man in Rußland - Sorgen wir dafür, daß wir nicht aus lauter Redlichkeitrzu-
letzt noch-1 Heilige werden!“ An diesem russischen Sprichwort hat N. Gefallen
gefunden, vgl. NL 1885, KSA 11, 34[234], 499, 12f. (KGW IX 1, N VII1, 22) u. NL
1886, KSA 12, 3[7], 172,10. Wie Morillas Esteban 2009, 329 f. nachgewiesen hat,
entstammt die Formulierung Iwan Turgenews Erzählung Sonderlinge, die in
der deutschen Übersetzung von Wilhelm Lange ausschnittweise 1881 in der
Zeitschrift Vom Fels zum Meer erschienen ist. Dort heißt es: „Melanie Pawlowna
war, wie man zu sagen pflegt, dumm bis zur Heiligkeit. Sie plauderte vom
hundertsten ins tausendste, ohne selbst recht zu wissen, was sie alles sprach -
und zwar /236/ fast immer vom Grafen Orloff: Orloff war gewissermaßen der
Hauptgedanke ihres Lebens geworden“ (Turgenjeff 1881, 235 f.).

228.
Das Motiv der Langeweile, die das Nachdenken über Moral bereite, dient in
der Exposition der Absicht, dieses Nachdenken wieder interessant zu machen,
was daraufhin in einer Attacke gegen Utilitarismus und „englische Morali-
tät“ (164, 23) quasi performativ demonstriert werden soll. Vorgebildet ist diese
Attacke in NL 1885, KSA 11, 35[34], 523, 15-524, 8 (entspricht KGW IX 4, W I 3,
113, 25-35 u. 110, 1-24): „Die utilitarischen Engländer voran, plump wie Horn-
vieh in den Fußtapfen Bentham’s wandelnd, wie er selber schon in den Fuß-
tapfen des Helvetius wandelte; kein neuer Gedanke, nicht einmal eine wirkli-
che Historie des Früher-Gedachten, sondern immer die alte moral. Tartüfferie,
das englische Laster des cant unter der neuen Form der Wissenschaftlichkeit
nebst geheimer Abwehr von Gewissensbissen, wie sie eine Rasse von ehemali-
gen Puritanern anzufallen pflegen. — Sie möchten sich um jeden Preis über-
reden, daß man dem eignen Nutzen nachgehen müsse, insofern gerade
damit dem allgemeinen Nutzen, dem Glück der Meisten, am besten gedient
 
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