Stellenkommentar JGB 228, KSA 5, S. 164 639
dass die „allgemeine Wohlfahrt“ kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer
Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, — dass, was dem Einen billig ist, durch-
aus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die Forderung Einer Moral für
Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, dass es eine
Rangordnung zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral
und Moral giebt.] Vgl. NK KSA 6, 61, 1-2. N. kombinierte hier Einwände gegen
die englische Moralphilosophie utilitaristischer Prägung, wie er sie etwa bei
Guyau 1885, 13 (vgl. NK 160, 15-21) oder Spencer 1879, 239-243 vorgeprägt
fand, mit einem literarischen Lektüreeindruck über die Engländer im Allgemei-
nen, der sich erstmals in NL 1884, KSA 11, 25[63], 26, 13-16 niedergeschlagen
hatte, und zwar mit der direkten Übersetzung eines Quellenauszugs: „Le com-
fort drinnen, la ,fashion draußen — die tödtlichen Feinde des Glücks und der
Ruhe der Engländer. Das Bedürfniß der Mode ist nur das Bedürfniß be-
neidet oder bewundert zu sein.“4 Während hier „comfort44 (Bequemlich-
keit) und „fashion44 (Mode) ausdrücklich als die Feinde des Glücks der Englän-
der erscheinen, mausert sich in den diversen Verarbeitungsstufen „comfort44
zum Inbegriff des englischen Glücks (NL 1884, KSA 11, 25[97], 34, 1-3; 25[213],
70,10-12; 25[223], 72, 20 f.; 26[326], 236, 5f.) und wird schließlich zum Referenz-
begriff für „Hedonismus44 und „Utilitarism44 gleichermaßen: „Bei allem Utilita-
rism ist im Hintergründe das wozu nützlich? (nämlich Glück: will sagen engli-
sches Glück mit comfort und fashion Wohlbehagen, qöovq) als bekannte Sache
angesetzt; also ist er ein verkappter verheuchelter Hedonismus. Aber da müßte
erst bewiesen sein, daß Wohlbefinden Wohlfahrt ,an sich4 bei einem Gemein-
wesen oder selbst bei der Menschheit Ziel und nicht Mittel sei!44 (NL 1884, KSA
11, 27[6], 276,10-16) Das ursprüngliche Zitat stammt aus den Memoires et voya-
ges von Astolphe de Custine, und zwar aus einem dort abgedruckten Brief Cus-
tines aus Cheltenham vom 23. 09.1822: „Des fetes, des bals, comme ä toutes
les eaux; mais ces plaisirs obliges sont regles par l’etiquette anglaise, qui rend
tout froid et insipide, sous pretexte d’arranger tout dune maniere convenable.
Le comfort au dedans, la fashion au dehors; tels sont les deux ennemis mortels
du bonheur et du repos des Anglais. S’ils fuient la fatigue que leur cause l’un
de ces tyrans, /449/ ils ne peuvent echapper aux soins qu’exige l’autre, et c’est
ainsi que leur vie se perd ä chercher les moyens de vivre commodement ou
d’inspirer de la Jalousie ä leurs voisins. La passion de la mode n’est que le
desir d’etre envie ou admire, ce qui deviendrait synonyme dans le langage des
gens du monde, s’ils etaient sinceres.44 (Custine 1830, 2, 448 f. „Feste, Bälle,
wie in allen Heilquellen; aber diese verpflichtenden Vergnügen werden von
der englischen Etikette geregelt, die alles kalt und unschmackhaft macht, unter
dem Vorwand, alles auf eine passende Art anzuordnen. Der comfort drinnen,
die fashion draußen; das sind die beiden Todfeinde des Glücks und der Ruhe
dass die „allgemeine Wohlfahrt“ kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer
Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, — dass, was dem Einen billig ist, durch-
aus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die Forderung Einer Moral für
Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, dass es eine
Rangordnung zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral
und Moral giebt.] Vgl. NK KSA 6, 61, 1-2. N. kombinierte hier Einwände gegen
die englische Moralphilosophie utilitaristischer Prägung, wie er sie etwa bei
Guyau 1885, 13 (vgl. NK 160, 15-21) oder Spencer 1879, 239-243 vorgeprägt
fand, mit einem literarischen Lektüreeindruck über die Engländer im Allgemei-
nen, der sich erstmals in NL 1884, KSA 11, 25[63], 26, 13-16 niedergeschlagen
hatte, und zwar mit der direkten Übersetzung eines Quellenauszugs: „Le com-
fort drinnen, la ,fashion draußen — die tödtlichen Feinde des Glücks und der
Ruhe der Engländer. Das Bedürfniß der Mode ist nur das Bedürfniß be-
neidet oder bewundert zu sein.“4 Während hier „comfort44 (Bequemlich-
keit) und „fashion44 (Mode) ausdrücklich als die Feinde des Glücks der Englän-
der erscheinen, mausert sich in den diversen Verarbeitungsstufen „comfort44
zum Inbegriff des englischen Glücks (NL 1884, KSA 11, 25[97], 34, 1-3; 25[213],
70,10-12; 25[223], 72, 20 f.; 26[326], 236, 5f.) und wird schließlich zum Referenz-
begriff für „Hedonismus44 und „Utilitarism44 gleichermaßen: „Bei allem Utilita-
rism ist im Hintergründe das wozu nützlich? (nämlich Glück: will sagen engli-
sches Glück mit comfort und fashion Wohlbehagen, qöovq) als bekannte Sache
angesetzt; also ist er ein verkappter verheuchelter Hedonismus. Aber da müßte
erst bewiesen sein, daß Wohlbefinden Wohlfahrt ,an sich4 bei einem Gemein-
wesen oder selbst bei der Menschheit Ziel und nicht Mittel sei!44 (NL 1884, KSA
11, 27[6], 276,10-16) Das ursprüngliche Zitat stammt aus den Memoires et voya-
ges von Astolphe de Custine, und zwar aus einem dort abgedruckten Brief Cus-
tines aus Cheltenham vom 23. 09.1822: „Des fetes, des bals, comme ä toutes
les eaux; mais ces plaisirs obliges sont regles par l’etiquette anglaise, qui rend
tout froid et insipide, sous pretexte d’arranger tout dune maniere convenable.
Le comfort au dedans, la fashion au dehors; tels sont les deux ennemis mortels
du bonheur et du repos des Anglais. S’ils fuient la fatigue que leur cause l’un
de ces tyrans, /449/ ils ne peuvent echapper aux soins qu’exige l’autre, et c’est
ainsi que leur vie se perd ä chercher les moyens de vivre commodement ou
d’inspirer de la Jalousie ä leurs voisins. La passion de la mode n’est que le
desir d’etre envie ou admire, ce qui deviendrait synonyme dans le langage des
gens du monde, s’ils etaient sinceres.44 (Custine 1830, 2, 448 f. „Feste, Bälle,
wie in allen Heilquellen; aber diese verpflichtenden Vergnügen werden von
der englischen Etikette geregelt, die alles kalt und unschmackhaft macht, unter
dem Vorwand, alles auf eine passende Art anzuordnen. Der comfort drinnen,
die fashion draußen; das sind die beiden Todfeinde des Glücks und der Ruhe