Stellenkommentar JGB 230, KSA 5, S. 167-169 649
nenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen
will] Zu Proteus vgl. NK 147, 17f. NL 1885, KSA 11, 40[53], 654, 15-29 (ent-
spricht KGW IX 4, W I 7, 47, 14-32) erklärt den „Schein“ für „die wirkliche
und einzige Realität der Dinge [...]. Ein bestimmter Name für diese Realität
wäre ,der Wille zur Macht4, nämlich von innen her bezeichnet und nicht von
seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus.“ Schon NL 1884, KSA 11,
26[359], 244, 20-23 hat den „Willen zum Schein“ näher erläutert: „Das Erste
und Wichtigste ist nämlich der Wille zum Schein, die Feststellung der Per-
spectiven, die »Gesetze4 der Optik d. h. das Setzen des Unwahren als wahr usw.“
Das Kompositum „Proteuskünste“ ist eine feststehende Wendung, derer
sich bereits Hölderlins Hyperion an einer Stelle bedient hat, die in der unter
N.s Büchern erhaltenen Hölderlin-Werkauswahl abgedruckt wurde, ebenso in
dem von N. 1875 erworbenen Band Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts
von Karl Julius Schröer: „Voll Lieb’ und Geist und Hoffnung wachsen seine
Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; Du siehst sie sieben Jahre später
und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind wie ein Boden, den der
Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie
sprechen, — wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft,
wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungkampf nur sieht, den ihr gestör-
ter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu thun hat“ (Hölder-
lin 1874, 290, vgl. Schröer 1875, 83).
169,10 Liebe zur Wahrheit] Vgl. NK 66, 9-12.
169, 13-170, 2 Aber wir Einsiedler und Murmelthiere, wir haben uns längst in
aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdi-
ge Wort-Prunkzu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewuss-
ten menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher schmeichlerischen
Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus
erkannt werden muss. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur;
über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr wer-
den, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und ge-
malt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie
er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen
Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren,
taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzu-
lange zugeflötet haben: „du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Her-
kunft!“ — das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine A ufga -
be — wer wollte das leugnen! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder
anders gefragt: „warum überhaupt Erkenntniss?“ — Jedermann wird uns darnach
fragen. Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst
nenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen
will] Zu Proteus vgl. NK 147, 17f. NL 1885, KSA 11, 40[53], 654, 15-29 (ent-
spricht KGW IX 4, W I 7, 47, 14-32) erklärt den „Schein“ für „die wirkliche
und einzige Realität der Dinge [...]. Ein bestimmter Name für diese Realität
wäre ,der Wille zur Macht4, nämlich von innen her bezeichnet und nicht von
seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus.“ Schon NL 1884, KSA 11,
26[359], 244, 20-23 hat den „Willen zum Schein“ näher erläutert: „Das Erste
und Wichtigste ist nämlich der Wille zum Schein, die Feststellung der Per-
spectiven, die »Gesetze4 der Optik d. h. das Setzen des Unwahren als wahr usw.“
Das Kompositum „Proteuskünste“ ist eine feststehende Wendung, derer
sich bereits Hölderlins Hyperion an einer Stelle bedient hat, die in der unter
N.s Büchern erhaltenen Hölderlin-Werkauswahl abgedruckt wurde, ebenso in
dem von N. 1875 erworbenen Band Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts
von Karl Julius Schröer: „Voll Lieb’ und Geist und Hoffnung wachsen seine
Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; Du siehst sie sieben Jahre später
und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind wie ein Boden, den der
Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie
sprechen, — wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft,
wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungkampf nur sieht, den ihr gestör-
ter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu thun hat“ (Hölder-
lin 1874, 290, vgl. Schröer 1875, 83).
169,10 Liebe zur Wahrheit] Vgl. NK 66, 9-12.
169, 13-170, 2 Aber wir Einsiedler und Murmelthiere, wir haben uns längst in
aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdi-
ge Wort-Prunkzu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewuss-
ten menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher schmeichlerischen
Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus
erkannt werden muss. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur;
über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr wer-
den, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und ge-
malt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie
er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen
Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren,
taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzu-
lange zugeflötet haben: „du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Her-
kunft!“ — das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine A ufga -
be — wer wollte das leugnen! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder
anders gefragt: „warum überhaupt Erkenntniss?“ — Jedermann wird uns darnach
fragen. Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst