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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0671
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Stellenkommentar JGB 230, KSA 5, S. 169 651

entspricht, wie ein Palimpsest immer wieder neu beschrieben, also mit Inter-
pretationen überfrachtet worden sei, ohne dabei doch gänzlich ausgelöscht zu
werden (vgl. auch NL 1887, KSA 12, 9[86], 380, 6-14 = KGW IX 6, W II 1, 79, 22-
34). Man wird die Rede vom „Grundtext“ nicht im Sinne eines anthropologi-
schen Absolutismus so verstehen dürfen, als gäbe es für das sprechende „Wir“
einen nicht selbst biologisch-historisch gewordenen Wesenskern des Men-
schen. Vielmehr besteht die Kritik darin, dass das herrschende, den Menschen
zu etwas Überirdischem nobilitierende metaphysische Menschenbild gerade
das, was da biologisch-historisch geworden ist, systematisch umdeutet und
seinen hochtrabenden Wünschen angleicht.
Die lateinische Formel „homo natura“ - die N. in NL 1885/86, KSA 12,
2[131], 132, 16 (entspricht KGW IX 5, W I 8, 85, 18) etwa auch als Zwischentitel
in einer Werkexposition vorgesehen hat, unmittelbar liiert mit dem ,,Wille[n]
zur Macht“ - lässt sich übersetzen mit „Mensch-Natur“, „Wesen des Men-
schen“ oder „menschliche Natur“ (so wird beispielsweise lamblichos in lateini-
scher Übersetzung bei Reich 1865, 22 zitiert, Pythagoras habe gemeint, „homo
natura compositus sit ex animo et corpore“, „die menschliche Natur sei zusam-
mengesetzt aus Geist und Körper“), aber doch wohl angemessener und poin-
tierter mit „Mensch als Natur“: Gerade um die Naturalisierung des Menschen
im Sinne seiner nahtlosen Einreihung unter den übrigen natürlichen Lebewe-
sen ist es JGB 230 zu tun.
Die am Ende des Abschnitts eindringlich gestellte Frage nach dem Warum
des Erkennen-Wollens ist brisant im Horizont der Eingangserläuterungen von
JGB 230, weil der Geist dort als Vermögen der Assimilation, des Herrwerden-
Wollens selbst noch in seiner Abschottung gilt, nicht als Streben nach »objekti-
ver4 Erkenntnis um jeden Preis. Das tiefe Wissen-Wollen widerstreitet den Inte-
ressen dieses Geistes, jedenfalls dort, wo er sich dadurch selber schwächt. Die
metaphysische Anthropologie befriedigt zunächst das Simplizitäts- und Ruhe-
bedürfnis des Geistes; ihre Bekämpfung und Abschaffung hingegen stören es
auf. Mittelfristig aber impliziert das Tiefer-dringen-Wollen eine Ausweitung der
Macht des Geistes - seine Assimilationskraft wächst, so dass das in JGB 230
offen bleibende „Warum?“ durchaus eine in der herrschsüchtigen Eigenlogik
des Geistes liegende Antwort finden könnte.
169, 25 f. mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren]
Bekanntlich hat Ödipus sich nach seinen unbewussten Freveltaten beide Au-
gen ausgestochen, die künftig weder das Erlittene noch das Getane sehen soll-
ten (Sophokles: König Ödipus 1271-1274). Odysseus wiederum verklebte zwar
zum Schutz vor dem verlockenden Sirenengesang die Ohren seiner Gefährten
mit Wachs, ließ sich selbst aber mit offenen Ohren am Mast festbinden, um
dem Gesang lauschen zu können (Homer: Odyssee XII 47-52). In der Mytholo-
 
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