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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0672
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652 Jenseits von Gut und Böse

gie sind also weder Ödipus’ Augen unerschrocken, noch Odysseus’ Ohren ver-
klebt. Es mag sein, dass der N.-Leser Franz Kafka aus dieser Mythentransfor-
mation die Anregung für seine bekannte Prosaminiatur Das Schweigen der Sire-
nen (1917) bezog, in der sich Odysseus ebenfalls die Ohren fest mit Wachs
verklebt.

231.
JGB 231 leitet eine Reihe von Kurztexten ein, die sich bis JGB 239 und damit bis
zum Schluss des Siebenten Hauptstücks erstreckt und dem Thema „Frauen“
gewidmet ist. Eine weitgehend mit der Druckfassung von JGB 231 identische
Aufzeichnung in KGW IX 5, W I 8, 203 f. trägt als Überschrift: „,Das Weib an
sich*“ (KGW IX 5, W I 8, 203, 2). Diesen Titel wollte N. ursprünglich einem der
zehn geplanten Abschnitte von JGB geben, wie aus seinem Brief vom
12. 04.1886 an Carl Heymons (KSB 7/KGB III/3, Nr. 687, S. 175, Z. 31) sowie aus
KGW IX 5, W I 8, 159, 12 u. KGW IX 5, W I 8, 174, 8 hervorgeht. Nimmt man
den Schlusssatz von JGB 231 ernst, dem zufolge die vom sprechenden Ich he-
rauszusagenden „Wahrheiten“ „über das ,Weib an sich“4 „eben nur — meine
Wahrheiten sind“ (170, 21-24), wird man die Analogiebildung „Weib an sich“
zu „Ding an sich“ als eine ironische Volte verstehen: Entweder ist das „Weib
an sich“ wie das „Ding an sich“ in Kants theoretischer Philosophie unerkenn-
bar (vgl. NK 16, 12 f.), dann kann auch niemand darüber „Wahrheiten“ verkün-
den, oder man kann das „Weib an sich“ so erkennen wie Schopenhauer das
„Ding an sich“ als Wille meinte erkennen zu können, nämlich durch Selbster-
fahrung, was dem männlichen Ich wiederum verwehrt blieb. Da etliche Texte
N.s gegen den metaphysischen Glauben an das „Ding an sich“ polemisieren
(vgl. z. B. NK 29, 24-28), wird der wohlwollend kritische Leser geneigt sein,
den Glauben an die Existenz eines „Weibes an sich“ gleichfalls zu verweigern.
Überdies werden die in den nächsten Abschnitten zum Thema kundzutuenden
Wahrheiten als Wahrheiten des wortführenden Ich subjektiviert; der metaphy-
sische Anspruch Schopenhauers, das „an sich“ zu erkennen, wird damit gera-
de ausgehebelt. Mit dieser Präambel der Subjektivität, die JGB 231 auf die grani-
tene Unbelehrbarkeit, also auf unbeeinflussbare Tiefenschichten des Spre-
chenden zurückführt, wird das Nachfolgende zum Thema Frau skeptisch
eingeklammert - als „Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Pro-
bleme, das wir sind, — richtiger, zur grossen Dummheit, die wir sind“ (170,
16-18). Dieses in JGB 231 überdeutlich markierte Vermögen zum Selbstmiss-
trauen kann durchaus zu „unseren Tugenden“ gehören, so schwierig es auch
ist, die folgenden Erörterungen zum Frauen-Thema sonst darunter zu rubrizie-
ren. Vgl. zur Interpretation von JGB 231 z. B. auch Clark 1998; Smitmans-Vajda
 
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