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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0697
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Stellenkommentar JGB 242, KSA 5, S. 181-182 677

„Vermittelmäßigung“ (KSA 12, 72, 11 f., vgl. auch NK KSA 1, 20, 18-20) eine
Reihe von Überlegungen vorweg, die JGB 242 ausführt. Der entscheidende Un-
terschied zwischen der Nachlass- und der Druckfassung besteht darin, dass
erstere die Demokratisierung Europas als „ungeheure instinktive Gesammt-Ver-
schwörung der Heerde [...] gegen alles, was Hirt, Raubthier, Einsiedler und
Cäsar ist“ (KSA 12, 72, 29-31), versteht, um eine ,,bewußte[.] Züchtung des
entgegengesetzten Typus“ (KSA 12, 73, 28 f.) zu propagieren, während JGB 242
bereits eine auch für das „Wir“ überraschend positiv konnotierte Zielrichtung
des geschichtlichen Prozesses auszumachen vermag: „die Demokratisirung Eu-
ropa’s ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyran-
nen“ (183, 23-25).
Es liegt nahe, in JGB 242 auch eine Reaktion auf die nach John Stuart Mills
On Liberty durch Entdifferenzierung drohende Sinisierung, Vermittelmäßigung
zu sehen - auf Passagen, die N. mit zahlreichen Randstrichen markiert hat:
„Welchem Umstande verdankt es die europäische Völkerfamilie, daß sie dem
fortschreitenden und nicht dem stillstehenden Theile der Menschheit ange-
hört? Nicht irgend welchen überlegenen Eigenschaften, die, wenn sie über-
haupt vorhanden sind, als die Wirkung und nicht als die Ursache vorhanden
sind, sondern lediglich ihrer bemerkenswerthen Verschiedenheit in Charakter
und Cultur. [...] Diese Verschiedenartigkeit der Wege ist es, nach meiner An-
sicht, der Europa seine fortschreitende und vielseitige Entwicklung verdankt.
Aber es fängt bereits an, sich dieser Wohlthat in viel geringerem Maße zu er-
freuen; wir nähern uns entschieden dem chinesischen Ideal der Allerwelts-
gleichheit. Herr v. Tocqueville macht in seinem letzten bedeutenden Werk
darauf aufmerksam, um wie viel mehr sich die Menschen der heutigen Genera-
tion in Frankreich ähnlich sehen, als dies auch nur im letzten Menschenalter
der Fall war; dieselbe Bemerkung gilt in noch weit höherem Grade von Eng-
land. In einer bereits angeführten Stelle bezeichnet Wilhelm v. Humboldt
zwei Dinge als die nothwendigen Voraussetzungen menschlicher Entwicklung,
weil sie nothwendig sind, um die Menschen einander unähnlich zu machen,
nämlich Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen. In Bezug auf die zweite
dieser Bedingungen gestalten sich die Dinge in England von Tage zu Tage un-
günstiger. Die äußern Umstände, welche verschiedene Stände und Individuen
umgeben und dazu beitragen, ihren Charakter zu bilden, werden täglich
gleichartiger. In /76/ frühem Zeiten lebten verschiedene Stände, verschiedene
Nachbarschaften, verschiedene Gewerbe und Berufsarten auch gewissermaßen
in verschiedenen Welten, heutzutage leben sie zum großen Theile in derselben
Welt. Vergleichsweise gesprochen, lesen sie jetzt dasselbe, hören und sehen
sie dasselbe, besuchen dieselben Orte, hoffen und fürchten dasselbe, haben
dieselben Rechte und Freiheiten und dieselben Mittel, sie zur Geltung zu brin-
 
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