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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0711
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Stellenkommentar JGB 245, KSA 5, S. 186-187 691

nichts anderes bezeichnet als das, was uns, den in uns verständlicher Sprache
Redenden, heimisch ist. Es ward frühzeitig dem ,wälsch‘ entgegengesetzt, wor-
unter die germanischen Stämme das den galisch-keltischen Stämmen Eigene
begriffen. Das Wort ,deutsch4 findet sich in dem Zeitwort ,deuten4 wieder:
»deutsch4 ist demnach, was uns deutlich ist, somit das Vertraute, uns Ge-
wohnte, von den Vätern Ererbte, unserem Boden Entsprossene.44 (Wagner 1907,
10, 37) Statt Deutlichkeit steht am Ende von JGB 244 Täuschung als Signatur
des Deutschtums.
Die zweifelhafte etymologische Assoziation von 186, 30 f. wird beispiels-
weise in Albert Vigoleis Thelens Roman Die Insel des zweiten Gesichts aufge-
griffen (Thelen 1983, 564).

245.
JGB 245 hat zwei Stoßrichtungen: Zum einen historisiert und ephemerisiert der
Abschnitt die klassische und romantische Musik. Sie erscheint keineswegs
mehr wie vielen Zeitgenossen N.s als unerreichbarer Gipfelpunkt des akustisch
Möglichen. Auch diese Musik wird verklingen; sie ist radikal zeitgebunden.
Zum andern ist die in JGB 245 nachgezeichnete historische Musikentwicklung
die einer Nationalisierung, die zugleich eine Provinzialisierung indiziert. Aus
europäischer Perspektive erscheint die Musikentwicklung nicht zukunftswei-
send, sondern rückschrittlich.
187, 2 f. Die „gute alte“ Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen] Die
idiomatische Wendung „die gute alte Zeit“ wird im 19. Jahrhundert populär
und ist durchaus aussagekräftig für ein kompensatorisches Rückbesinnungs-
bedürfnis unter dem (mitunter ängstigenden) Eindruck gesellschaftlicher und
politischer Modernisierungsschübe (vgl. Stein 2003). 187, 2 f. konterkariert die-
ses Bedürfnis ironisch. Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) ist bei N. mit
„Anmuth und Grazie des Herzens“ (MA II VM 298, KSA 2, 501, 4 f.) assoziiert;
die Leichtigkeit und Zärtlichkeit seiner Musik wird in MA II WS 165, KSA 2,
620, 17-21 betont - eine Stelle, die N. in NW Wagner als Gefahr 2, KSA 6, 422,
32-423, 5 erneut aufgreift. Bei dieser Wiederaufnahme wird hinzugefügt, dass
Mozart „zum Glück kein Deutscher“ gewesen sei. JGB 245 macht Mozart explizit
zu einem europäischen Ereignis (188, 25-27) und spielt ihn gegen den bloß
noch deutschen Schumann aus, nicht ohne aber gleichzeitig seine universelle
Bedeutung zu relativieren: Auch für Mozart werde man dereinst kein Ohr mehr
haben. Wagner habe, so N., Mozart für frivol gehalten (vgl. NK KSA 6, 26, 6-
8). Tatsächlich merkte Wagner in seinem Beethoven an, bei Mozart und Haydn
sei „Flüchtigkeit in der Konzeption und in der Ausführung nach angeeigneter
 
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