Stellenkommentar JGB 252, KSA 5, S. 195 713
John Locke (1632-1704) und David Hume (1711-1776) hat N. wenig eigenständi-
ge Textstudien gewidmet; Hobbes kommt nur an drei Stellen überhaupt vor
(vgl. Brobjer 2008a, 45-48; kein Werk von Hobbes ist in N.s Bibliothek erhal-
ten, vgl. auch NK 236,19-26), Locke an sechs (vgl. NK 35, 7 f. u. Brobjer 2008a,
48-52; in N.s Bibliothek: Einige Gedanken über Erziehung), Hume an immerhin
sechzehn Stellen (vgl. Brobjer 2008a, 53-58; in N.s Bibliothek: Gespräche über
natürliche Religion). Kants Erhebung gegen Hume wird bei N. sonst nicht als
gelungene Überwindung der vom schottischen Skeptiker eingebrachten Vorbe-
halte anerkannt (vgl. NK 24, 13-26).
Das Schelling zugeschriebene Diktum ist in Schillers Brief an Goethe vom
30.11.1803 überliefert, wo es heißt: „Wir würden nicht so leicht damit [sc. mit
der „französischen Volubilität“ der Madame de Stael] fertig werden wie Schel-
ling mit Camille Jourdan der ihm mit Locke angezogen kam - Je meprise Locke,
sagte Schelling, und so verstummte dann freilich der Gegner.“ (Schiller/Goethe
1870, 2, 405). Lampl 1993, 295 f. meint, das Schelling-Diktum beweise eine di-
rekte Übernahme aus Otto Liebmanns Kant und die Epigonen, wo es heißt,
Schelling habe „in einer philosophischen Unterhaltung mit Victor Cousin“ ge-
äußert: „Je meprise Locke“4 (Liebmann 1865, 90). Freilich könnte N. den Aus-
spruch genauso gut in Schillers Brief gefunden haben; sein Exemplar von Lieb-
manns Kant und die Epigonen weist jedenfalls keine Lesespuren auf. Zu N. und
Schelling vgl. z. B. NK 25, 10-17 u. NK KSA 6, 361, 1-5.
195,18-24 Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener
Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle,
welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich
selbst wusste: nämlich woran es in Carlyle fehlte — an eigentlicher Macht
der Geistigkeit, an eigentlicher T i efe des geistigen Blicks, kurz, an Philosophie.]
Der Gedankengang insinuiert, dass sich der schottische Essayist und Historiker
Thomas Carlyle (1795-1881) gerade wegen des vermeintlichen Mangels an phi-
losophischer Tiefe in Großbritannien intensiv dem deutschen Geistesleben zu-
gewandt habe, von seinen englischen Übersetzungen deutscher klassischer
und romantischer Texte, seinen Kontakten mit Goethe über seine Schiller-Bio-
graphie und den Sartor Resartus bis hin zu dem umfangreichen Werk zu Fried-
rich II. von Preußen. N. sollte seine Fundamentalkritik an Carlyle ausführlich
in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 12, KSA 6, 119 formulieren. Er scheint
Carlyle als starken Konkurrenten im Kampf um kulturelle Deutungsmacht und
kulturelle Erneuerung empfunden zu haben; jedenfalls ließ er keine Gelegen-
heit verstreichen, ihn zu diffamieren.
195, 27-196, 5 Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler
als der Deutsche — ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch fröm-
John Locke (1632-1704) und David Hume (1711-1776) hat N. wenig eigenständi-
ge Textstudien gewidmet; Hobbes kommt nur an drei Stellen überhaupt vor
(vgl. Brobjer 2008a, 45-48; kein Werk von Hobbes ist in N.s Bibliothek erhal-
ten, vgl. auch NK 236,19-26), Locke an sechs (vgl. NK 35, 7 f. u. Brobjer 2008a,
48-52; in N.s Bibliothek: Einige Gedanken über Erziehung), Hume an immerhin
sechzehn Stellen (vgl. Brobjer 2008a, 53-58; in N.s Bibliothek: Gespräche über
natürliche Religion). Kants Erhebung gegen Hume wird bei N. sonst nicht als
gelungene Überwindung der vom schottischen Skeptiker eingebrachten Vorbe-
halte anerkannt (vgl. NK 24, 13-26).
Das Schelling zugeschriebene Diktum ist in Schillers Brief an Goethe vom
30.11.1803 überliefert, wo es heißt: „Wir würden nicht so leicht damit [sc. mit
der „französischen Volubilität“ der Madame de Stael] fertig werden wie Schel-
ling mit Camille Jourdan der ihm mit Locke angezogen kam - Je meprise Locke,
sagte Schelling, und so verstummte dann freilich der Gegner.“ (Schiller/Goethe
1870, 2, 405). Lampl 1993, 295 f. meint, das Schelling-Diktum beweise eine di-
rekte Übernahme aus Otto Liebmanns Kant und die Epigonen, wo es heißt,
Schelling habe „in einer philosophischen Unterhaltung mit Victor Cousin“ ge-
äußert: „Je meprise Locke“4 (Liebmann 1865, 90). Freilich könnte N. den Aus-
spruch genauso gut in Schillers Brief gefunden haben; sein Exemplar von Lieb-
manns Kant und die Epigonen weist jedenfalls keine Lesespuren auf. Zu N. und
Schelling vgl. z. B. NK 25, 10-17 u. NK KSA 6, 361, 1-5.
195,18-24 Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener
Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle,
welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich
selbst wusste: nämlich woran es in Carlyle fehlte — an eigentlicher Macht
der Geistigkeit, an eigentlicher T i efe des geistigen Blicks, kurz, an Philosophie.]
Der Gedankengang insinuiert, dass sich der schottische Essayist und Historiker
Thomas Carlyle (1795-1881) gerade wegen des vermeintlichen Mangels an phi-
losophischer Tiefe in Großbritannien intensiv dem deutschen Geistesleben zu-
gewandt habe, von seinen englischen Übersetzungen deutscher klassischer
und romantischer Texte, seinen Kontakten mit Goethe über seine Schiller-Bio-
graphie und den Sartor Resartus bis hin zu dem umfangreichen Werk zu Fried-
rich II. von Preußen. N. sollte seine Fundamentalkritik an Carlyle ausführlich
in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 12, KSA 6, 119 formulieren. Er scheint
Carlyle als starken Konkurrenten im Kampf um kulturelle Deutungsmacht und
kulturelle Erneuerung empfunden zu haben; jedenfalls ließ er keine Gelegen-
heit verstreichen, ihn zu diffamieren.
195, 27-196, 5 Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler
als der Deutsche — ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch fröm-