Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0750
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
730 Jenseits von Gut und Böse

weniger physisch als vielmehr psychisch Überlegenen. Im Druckmanuskript
folgte darauf ein längerer, von N. schließlich mit der Neueinfügung von JGB
258 im Juli 1886 gestrichener Passus (vgl. Röllin 2013, 59): „Die ,Vermenschli-
chung4 solcher Barbaren - zum Theil ein ungewollter Prozeß, der sich nach
ungefährer Feststellung der Machtverhältnisse von selbst einstellt - ist wesent-
lich ein Schwächungs- und Milderungs-Prozeß und vollzieht sich gerade auf
Unkosten jener Triebe, denen sie ihren Sieg und ihren Besitz verdankten; und
während sie dergestalt sich der »menschlicheren4 Tugenden bemächtigen, viel-
leicht sogar mit einem prachtvollen Ungestüm und gemäß ihrer »Beutelust4
auch noch im Geistigsten, als Überwältiger alter Culturen, Künste, Religionen -
vollzieht sich ebenso allmählich auf der Seite der Unterdrückten und Versklav-
ten ein umgekehrter Prozeß. In dem Maaße, in welchem sie milder, menschli-
cher gehalten werden und folglich physisch reichlicher gedeihen, entwickelt
sich in ihnen der Barbar, der verstärkte Mensch, das Halbthier mit den Be-
gierden der Wildniß: - der Barbar, der sich eines Tages stark genug spürt, sich
seiner vermenschlichten, das heißt verweichlichten Herren zu erwehren. Das
Spiel beginnt von Neuem: die Anfänge einer höheren Cultur sind wieder
einmal gegeben. Ich will sagen: es hat sich jedes Mal unter dem Druck herr-
schender vornehmer Kasten und Culturen von unten her ein langsamer Gegen-
druck gebildet, eine ungeheure instinktive unverabredete Gesammt-Verschwö-
rung zu Gunsten der Erhaltung und Heraufbringung alles Beherrschten, Ausge-
nützten, Schlecht-Weggekommenen, Mittelmäßigen, Halb-Mißrathenen, als
ein in die Länge gezogener, erst gezogener, erst heimlicher, dann immer selbst-
bewußterer Sklaven-Unmuth und Sklaven-Aufstand, als ein Instinkt wider jede
Art von Herrn, zuletzt noch gegen den Begriff »Herr4, als ein Krieg auf Leben
und Tod wider jede Moral, welche aus dem Schooße und Bewußtsein einer
höheren herrschaftlichen Art Mensch entspringt, einer solchen, die an Sklave-
rei in irgend welcher Form und unter irgend welchem Namen als ihrer Grundla-
ge und Bedingung bedarf. Dies Alles immer nur bis zu dem Zeitpunkte, wo
eine solche Sklaven-Rasse mächtig genug - »Barbar4 genug! - wurde, sich
selbst zum Herrn zu machen: sofort sind dann die umgekehrten Principien
und Moralen da. Denn das Herr-sein hat seine Instinkte, wie das Sklave-sein:
»Natur4 ist in Beidem, - und auch »Moral4 ist ein Stück Natur. (KSA 14, 371 f.)
Die Druckfassung blendet diese gegenläufige Entwicklung der Sklaven und
der Herren aus, zwischen denen sich dann ja offensichtlich eine eigentümliche
Dialektik ergibt, in der Sklaven und Herren nicht mehr prinzipiell geschieden
sind, sondern der Sklave über die Stufe des „Barbaren44 sich zum Herrn auf-
schwingt (vgl. zur Interpretation Figl 1984, 342 f.). Dieses Potential des Sklaven
aufzuzeigen, entspricht dann offensichtlich nicht mehr der argumentativen In-
tention, zumal der schließlich gestrichene Teil stark die Unplanbarkeit und
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften