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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0751
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Stellenkommentar JGB 257, KSA 5, S. 204-205 731

Unbewusstheit der behaupteten historischen Entwicklungen betont, während
der Anfang von JGB 257 den Eindruck erzeugt, die „Erhöhung des Typus
,Mensch“4 (205, 4) sei die bewusste und gezielte Anstrengung einer aristokrati-
schen Gesellschaft. Diese Mach- und Planbarkeit künftiger Menschheitszustän-
de wird auch in der längeren Aufzeichnung NL 1885/86, KSA 12, 2[13], 71-74
(KGW IX 5, W I 8, 263-259) auf den Züchtungsgedanken hin zugespitzt, wäh-
rend die Druckversion von JGB 257 im Vergleich dazu deutlich zurückhaltender
ist (zur Genese von JGB 257 im Kontext von Nachlass sowie von JGB 201-203,
JGB 262 u. JGB 268 siehe Tongeren 1989, 140-150). Nur im Passus über das
„Pathos der Distanz“ (vgl. NK 205, 9-20) wird zumindest nicht ausgeschlossen,
dass nicht allein die faktischen Herren, sondern auch die faktischen Sklaven
von der schroffen sozialen Stratifikation bei der Erweiterung eigener Persön-
lichkeitsinnenräume profitieren könnten (man denke an den N. durch rezente
Lektüren - Simplikios 1867 - vor Augen stehenden Sklaven Epiktet).
205, 4-8 Jede Erhöhung des Typus „Mensch“ war bisher das Werk einer aristo-
kratischen Gesellschaft — und so wird es immer wieder sein: als einer Gesell-
schaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit
von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat.]
In seiner von ihm selbst nicht veröffentlichten Frühschrift CV 3: Der griechi-
sche Staat (KSA 1, 764-777) hat N. die soziale und vor allem kulturelle Bedeu-
tung der Sklaverei beleuchtet und ihre anhaltende Notwendigkeit postuliert.
Damit nahm N. eine dezidierte Gegenposition zum damals dominanten Aboliti-
onismus ein (vgl. ausführlich NK KSA 6, 143, 8-10 sowie NK KSA 6, 236, 33-
237, 4, ferner zum Kontext Sommer 2011d, 9-13). Viele Interpreten sehen N. in
JGB 257 diesen Faden wieder aufnehmen und verstehen N.s - vermeintliches -
politisches Konzept als Abwandlung der Ständeordnung in Platons Politeia
(vgl. Knoll 2009). Diese These einer Kontinuität zu N.s früherem politischem
Denken wird etwa belegt mit dem Hinweis auf MA I 439, KSA 2, 286 f. (so bei
Drochon 2010, 668 f.). Indes lässt sich eine solche Kontinuität mit Blick auf JGB
257 durchaus relativieren. Der Beginn dieses Abschnitts gestattet zwar schwer-
lich den Ausweg, für die Gegenwart eine gemilderte Form der Aristokratie zu
postulieren, die sich nicht mehr in realen Herrschaftsverhältnissen, sondern
in Selbstbezwingungs- und Selbstgestaltungsmacht äußert - jedenfalls müsste
man dazu weit über das im Text Gesagte hinausgehen, der ja ausdrücklich
auch für künftige Entwicklungen des „Typus ,Mensch“4 eine „Gesellschaft“ als
notwendig hinstellt, in der „Sklaverei“ und „Rangordnung“ bestimmend blei-
ben (vgl. Drochon 2010, 669 f. u. Daigle 2006,12). Die Frage ist aber, wie impe-
rativisch man die historischen Faktenbehauptungen des Textanfanges liest, zu-
mal das Folgende ja auch von einer anderen, im Innenraum der Persönlichkeit
sich formierenden Art des „Pathos“ spricht, für die das soziale „Pathos der
 
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