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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0752
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732 Jenseits von Gut und Böse

Distanz“ zwar die genetische Voraussetzung sein soll, aber nicht zwangsläufig
etwas, was sich zur Aufrechterhaltung des ,,geheimnissvollere[n] Pathos“ (205,
14) notwendig perpetuieren müsste. Man hat den Eingang von JGB 257 und
damit des Neunten Hauptstücks nicht notwendig als Lehrsatz oder als Gebot
der Vornehmheit aufzufassen, sondern darf ihn auch als gezielte Provokation
verstehen, mit der sich die sprechende Instanz die Aufmerksamkeit mittels
Schockwirkung zu sichern trachtet. Wotling 2010, 41 f. benutzt JGB 257 in sei-
ner Argumentation, das Schema von Befehlen und Gehorchen nicht bloß für
N.s idiosynkratisches Vorurteil zu halten, sondern es in der Logik des Trieble-
bens begründet zu sehen. Vgl. NK 206, 24-207, 3.
205, 9-20 Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten
Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herr-
schenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständi-
gen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte
auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen
nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbil-
dung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zu-
stände, kurz eben die Erhöhung des Typus „Mensch“, die fortgesetzte „Selbst-
überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel in einem übermorali-
schen Sinne zu nehmen.] In JGB 257 benutzte N. zum ersten Mal in einem Werk
seine nachmals berühmt gewordene Wendung „Pathos der Distanz“, die im
Nachlass seit 1885 auftaucht und insgesamt nicht mehr als elf Mal bei N. nach-
weisbar ist. JGB 257 führt das „Pathos der Distanz“ zunächst als sozialen
Habitus der Herrschenden in einer stark stratifizierten Gesellschaft ein, die un-
entwegt durch Gehorsamserzwingung Abstand zu den Beherrschten schaffen.
Trotz der Sperrung liegt der Akzent hier nicht auf diesem sozialen Habitus,
sondern auf dem, was er ermöglicht, nämlich auf einem innerseelischen Stre-
ben nach Distanzerweiterung, das man als permanente Selbstüberwindung be-
zeichnen könnte, hätte der Begriff „Selbstüberwindung“ nicht eine moralische
Schlagseite (vgl. ausführlich NK KSA 6, 11, 10-13; ferner NK 51, 26-31 u. Leh-
mann 1879, 142: „Sich selbst überwinden ist ein tapferes Siegeszeichen und ist
mehr der Geduld als der Rache eigen“). „Pathos der Distanz“ ermöglicht erst
höhere Formen der Individualisierung. Zunächst gewannen, wie JGB 257 im
Folgenden ausführt, ja „Barbaren“ (205, 26) gewaltsam die Oberhand über
friedfertigere Menschen. Die Pointe der Argumentation besteht nun darin, dass
die Barbaren nicht etwa durch das enge Zusammenleben mit den Unterjochten,
durch Vermischung und Akkulturation zivilisiert wurden, sondern durch die
Abscheidung von diesen Unterjochten vornehmes Profil und reichhaltige Per-
sönlichkeit erlangten. Distanzierung wird zum lebensbestimmenden, schließ-
lich selbstbestimmenden Gestus aristokratischer Existenzform. Nach NL 1885/
 
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