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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0763
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Stellenkommentar JGB 259, KSA 5, S. 207 743

um sein Leben zu erhalten - denn jeder muss z. B. einmal schlafen! ist es
weder sinnvoll noch möglich, dem Aneignungsbedürfnis permanent stattzuge-
ben. Überdies wäre gänzlich unlimitiertes Einverleibungs- und Aneignungsle-
ben als „Grundprincip der Gesellschaft“ (207, 17) ein Unding, denn
keine Gesellschaft vermöchte als permanenter Kampf aller gegen alle zu exis-
tieren: Die Beschneidung von Lebensinteressen ist, wenn man den hier zugrun-
de liegenden Lebensbegriff einmal für gesetzt nimmt, unabdingbar, wenn so
etwas wie menschliches Zusammengehen möglich sein soll. Der wie eine Rück-
versicherung eingebaute Hinweis auf den „Körper“ einer „gesunden Aristokra-
tie“, innerhalb dessen sich „die Einzelnen [...] als gleich behandeln sollen“
(207, 27-30), wirkt eher wie ein frommer Wunsch: Denn weshalb sollte das Indi-
viduum, das Teil dieser politischen Körperschaft ist (in Analogie konstruiert
zum „Organismus“ bei Roux 1881), sich mit den anderen Individuen solidari-
sieren, um mit ihnen gegen außen gemeinsame Sache zu machen, gegenüber
Dritten „Übergewicht [zu] gewinnen“ (208, 2)? Ganz offenkundig ist es für diese
Konstitution einer Aristokratie gleichberechtigter Individuen notwendig, dass
das einzelne Individuum auf das Ausagieren seines Gewaltpotentials gegen-
über den anderen Individuen innerhalb seiner Gruppe, der „gesunden Aristo-
kratie“ verzichtet, also „seinen Willen dem des Andern“ gerade „gleich“ (207,
11) setzt. Die Konstitution dieser als entschieden wünschbar dargestellten Aris-
tokratie im Sinne eines politischen „Körpers“ kann also nur funktionieren wie
die Konstitution jedes anderen politischen Körpers auch, nämlich durch min-
destens partiellen Gewalt- und Übergriffsverzicht der beteiligten Individuen,
die ihr Gewaltrecht an das Kollektiv abtreten. In ihrer Struktur unterscheidet
sich die angeblich gesunde Aristokratie in nichts von ganz gewöhnlichen Staa-
ten, die dem Gewaltpotential der Individuen, aus denen sie bestehen, gleich-
falls ein Ventil nach außen schaffen: Entsprechend führen Staaten Eroberungs-
kriege, gesellschaftliche Klassen Bürgerkriege.
JGB 259 baut auf die Fata Morgana einer maximalistischen Ausschlie-
ßungslogik, als würde es „Leben“ entweder nur ganz oder gar nicht, nur ganz
verneint oder ganz bejaht geben. Aus der Nähe betrachtet, ist diese Alternative
ebenso falsch wie die Monadisierung von „Leben“, wonach das Lebensinteres-
se eines Individuums gegen das Lebensinteresse anderer Individuen steht, und
dem, sobald es nur auf den geringsten Widerstand stößt, eine Verneinung des
eigenen Lebenswillens widerfährt. Das Fortissimo, mit dem die Ausschlie-
ßungslogik verkündet wird, hat wohl weniger den Zweck, Proselyten zu ma-
chen, die an „das Ur-Faktum aller Geschichte“ (208,17) glauben - zu leicht
lässt sich die Inkonsistenz der Argumentation doch durchschauen -, als viel-
mehr die Absicht, zur Destabilisierung des Moralkonsenses einen Beitrag zu
leisten und bei den unsanft wachgerüttelten Lesern einen intellektuell-agona-
len Selbstbehauptungsprozess auszulösen.
 
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