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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0767
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Stellenkommentar JGB 260, KSA 5, S. 208-209 747

Die binäre Typologie Herren- und Sklavenmoral scheint alle historische
Differenzierung im hominiden Moralhaushalt einzuebnen und ein überhistori-
sches Deutungsschema zu etablieren. Demgegenüber ist der Begriff der Skla-
venmoral bei seiner zweiten historischen Wurzel neben Schopenhauer, näm-
lich bei Victor Cousin, an eine historisch ganz konkrete Konstellation gebun-
den. Kaum ein anderes Urteil über die Stoa wurde im 19. Jahrhundert so häufig
kolportiert wie Cousins ätzender Satz: „La morale stoi’cienne, ä parier rigoureu-
sement, n’est au fond qu’une morale d’esclave, excellente dans Epictete, inu-
tile au monde dans Marc-Aurele.“ (Cousin 1840, 1, 182. „Die stoische Moral,
um deutlich zu reden, ist im Grunde nur eine Sklavenmoral, ausgezeichnet bei
Epiktet, unnütz der Welt bei Mark Aurel.“) Ebensowenig wie Schopenhauer
wäre es Cousin jedoch eingefallen, menschliches Handeln, Verhalten, Denken
und Fühlen prinzipiell nach Herren- und Sklavenmoral zu unterscheiden. Bei
JGB 260 ist man - wie so oft bei N. - wohlberaten, die schroffen Antagonismen
nach ihrer experimentalphilosophischen Valenz zu befragen - nicht zuletzt
womöglich als entschiedene Aufforderung an den Leser, dessen eigenes, oft
konfuses Moral-Setting einer Prüfung zu unterziehen, und zwar herausgefor-
dert durch den Fundamentalverdacht, dieses Setting sei womöglich Ausdruck
sklavischer Gesinnung.
209, 9-11 Man bemerke sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz
„gut“ und „schlecht“ so viel bedeutet wie „vornehm“ und „verächtlich“] Auf der
Grundlage diverser historischer Quellen heißt es in Paul Rees Die Entstehung
des Gewissens: „Mit dieser, so zu sagen, moralischen Klassifikation der Men-
schen in Vornehme und Geringe, Mächtige und Schwache stimmt es überein,
dass die älteste Bedeutung des Wortes ,gut‘ vornehm, mächtig, reich, diejenige
des Wortes »schlecht4 gering, schwach, arm ist.“ (Ree 1885, 22 = Ree 2004, 225
und dazu der Kommentar von Hubert Treiber ebd., 553 f.). Wichtige Anregun-
gen zu diesem Komplex verdankte N. namentlich auch dem 4. Kapitel von Leo-
pold Schmidts Ethik der alten Griechen unter dem Titel „Die Terminologie des
Guten und Schlechten“ (Schmidt 1882, 1, 289-376, speziell zur Vornehmheit
330, ferner Grote 1850-1856, 1, 439). Vgl. Treiber 2013, 167, Fn. 69.
209,18 f. „Wir Wahrhaftigen“ — so nannten sich im alten Griechenland die Ade-
ligen.] Vgl. GM I 5, KSA 5, 262, 32-263, 3, wo zudem noch auf Theognis von
Megara aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert als Referenzautor verwiesen
wird (dem N. selbst frühe philologische Studien, namentlich 1864 seine Vale-
diktionsarbeit in Schulpforta und 1867 den Aufsatz Zur Geschichte der Theogni-
deischen Spruchsammlung fürs Rheinische Museum gewidmet hat). Dabei gilt
das „Wort ectOAoc;“ als Bezeichnng dessen, „der wahr ist“ (KSA 5, 263, 3f.).
Gemeinhin wird ectOAoc; mit „wacker, brav, bieder, edel“ oder mit „gut und
 
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