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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0773
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Stellenkommentar JGB 260, KSA 5, S. 212 753

Luhmann als Titel für seine Studie über die „Kodierung von Intimität“ (Luh-
mann 1982). Im Nachlass von 1885 gibt es rund zehn Stellen, an denen N. die
provenzalische Wendung „gai saber“, „fröhliches Wissen“ benutzte und auch
als Buchtitel erwog (vgl. NK 9, 2f. u. NK 19, 29-31; ausführlich Campioni 2010
u. Stegmaier 2012, 35-39); in seinen Werken kommt sie neben JGB 260 nur
noch in JGB 293, KSA 5, 236, 15 vor. Im Jahr 1323 bildete sich in Toulouse der
Dichterkreis Consistori de la Subregaya Companhia del Gai Saber, der an die
okzitanische Lyrik der Trobadors des 12. und 13. Jahrhunderts anknüpfen woll-
te. N. hätte sich dazu schon früh bei Klein 1866, 4/1, 60-63 oder Ambros 1864,
2, 216-218 unterrichten können, scheint dies aber nicht getan zu haben, da er
offenbar den späteren Wiederbelebungsversuch mit der lebendigen Trobador-
Tradition verwechselt. Unter N.s Zeitgenossen herrscht weit überwiegend die
Schreibweise „gay saber“ vor (vgl. Gsell-Fels/Berlepsch 1869, 144, zitiert in NK
KSA 6, 37, 15 f.), der sich N. allerdings nie bedient. Zwar hat N., wie Campioni
2010 und Venturelli 2010,182 f. hervorheben, in den frühen 1880er Jahren Emi-
le Gebharts Les origines de la Renaissance en Italie studiert, in der auch von
der Trobador-Kultur Südfrankreichs berichtet wird (Gebhart 1879, 6-15); jedoch
fehlt dort die Wendung „gai saber“; stattdessen steht an einer Stelle das fran-
zösische Pendant („la gaie Science etait pour ces chanteurs plus seduisante
que la Science“ - ebd., 15 - „die fröhliche Wissenschaft war für diese Sänger
verführerischer als die Wissenschaft“). Campioni 2010, 35 hat N.s eigentliche
Quelle für das „gai saber“ dingfest gemacht, nämlich Lefebvre Saint-Ogans Es-
sai sur l’influence frangaise, der mit Lesespuren in N.s Bibliothek erhalten ist.
Dort heißt es: „Illustre par la poesie, le patois du Gai saber se repandit bientöt
en Europe.“ (Saint-Ogan 1885, 26. „Veranschaulicht durch die Poesie, verbreite-
te sich der Dialekt des Gai saber bald in Europa.“ Campioni 2010, 35 gibt nur
eine deutsche Übersetzung und lässt den Seitennachweis weg.) Die Anwen-
dung dieser Formel auf die okzitanische Trobador-Lyrik stellt freilich einen
Anachronismus dar, da sie erst im 14. Jahrhundert geprägt wurde, als die ur-
sprüngliche Trobador-Kultur schon untergangen war. Dass die provenzalische
Kultur des Mittelalters ein „Höhepunkt“ lebensbejahender „Moralität“ gewesen
sein könnte, hat N. bereits in NL 1883, KSA 10, 7[44], 256 f. erwogen, um dann
in NL 1885, KSA 11, 34[90], 449, 26-29 (KGW IX 1, N VII1,136,10-20) zu dekre-
tieren: „Dem provengalischen Geiste, der heidnisch geblieben ist, ich meine
,nicht germanisch4, verdankt man die Vergeistigung des amor der Ge-
schlechtsliebe: während es das Alterthum nur zu einer Vergeistigung der Päde-
rastie gebracht hat.“ Bemerkenswert ist, dass der Genfer Historiker und Öko-
nom Jean-Charles-Leonard Simonde de Sismondi (1773-1842) im ersten Band
seines vielgelesenen Werkes De la Utterature du midi de fEurope nicht nur die
provenzalische Dichtung ausgiebig vorstellte (und „gai saber“ statt „gay saber“
 
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