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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0778
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758 Jenseits von Gut und Böse

214, 22-27 Umgekehrt weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten,
denen eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und
Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation des Typus
neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an monströsen Lastern)
sind.] Dass dies eine wichtige Idee aus William Henry Rolphs Biologischen
Problemen darstellt, ist schon lange bekannt; so notierte Karl Jaspers an den
Rand seines Handexemplars: „Biologisches Prinzip in Anwend[un]g auf Ge-
schichte / Rolph“ (Nietzsche 1923, 246). Gegen die angeblich an Malthus ange-
lehnte Mangeltheorie Darwins, wonach die Varietät sich gerade der Ressour-
cenknappheit verdanke, argumentierte Rolph 1884, 75 f.: „Diese Periode der
aufsteigenden Vermehrung ist es nun, welche die Abänderungen, die wir jetzt
vor unseren Augen haben, entwickelt hat. Also eine Periode der Abundanz und
Prosperität, nicht eine Periode des heftigen Coucurrenzkampfes um die in Fol-
ge von Uebervölkerung schmal werdende Nahrung. Und ebenso muss in Bezug
auf die selten gewordenen Arten doch geschlossen werden, dass die früher
vorhandenen zahlreichen Varietäten während der absteigenden Periode, also
während des überwältigenden Druckes, der die Art decimirte, vernichtet wor-
den seien. Varietätenbildung ist also nicht auf Pe-/76/rioden des Druckes, son-
dern auf Perioden der Prosperität zurückzuführen. / Zum Ueberfluss giebt uns
die Thatsache, dass domesticirte Arten, die also sorgfältig gehegt, gepflegt und
gefüttert werden, die einem Concurrenzkampfe gänzlich entzogen sind, enorm
variiren und die wunderbarsten Monstrositäten produciren, einen sehr deutli-
chen Beweis.“ (Von N. am Rand markiert, vgl. auch Moore 1998, 40).
214, 27-215, 1 Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa
eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es unfrei-
willige Veranstaltung zum Zweck der Züchtung an: es sind da Menschen bei
einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens,
weil sie sich durchsetzen müssen oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen, aus-
gerottet zu werden.] Vgl. NK KSA 6, 140, 19-24.
215,1-7 Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener Schutz, unter denen die
Variation begünstigt ist; die Art hat sich als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade
vermöge seiner Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durch-
setzen und dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn
oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten.] Wieder-
um (vgl. NK 214, 22-27) handelt es sich um eine historisch-soziologische Nutz-
anwendung der Biologie nach Rolph, der vehement die darwinistische Auffas-
sung bestreitet, „dass die Energie der Mitbewerbung die Bildung von Varietä-
ten begünstige“, und „dass die Individuen einer Art um so mehr variiren, je
ungünstiger die Ernährungsverhältnisse für dieselben durch die Concurrenz
geworden sind“ (Rolph 1884, 75).
 
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