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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0779
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Stellenkommentar JGB 262, KSA 5, S. 214-216 759

215, 28-216, 2 Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten
Zucht: sie fühlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, — wollte
sie fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Luxus, als archaisiren-
der Geschmack. Die Variation, sei es als Abartung (in’s Höhere, Feinere, Selt-
nere), sei es als Entartung und Monstrosität, ist plötzlich in der grössten Fülle
und Pracht auf dem Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzu-
heben.] Erneut steht Rolph Pate, sah der sich doch „zu der Behaup-/77/tung
genöthigt, dass Variabilität im Allgemeinen, besonders aber die eine soge-
nannte Vervollkommnung producirenden Variationen, Begleitserscheinungen
der Prosperität der Verhältnisse sind. / Es ist das eine Deduction, die meines
Wissens für die Zoologie noch nicht gegeben worden ist, obgleich die Botaniker
schon längst im Uebermaass von Nahrung das wesentlichste Moment für die
Entwicklung von Abänderungen erkannt haben.“ (Rolph 1884, 76 f. Unterstrei-
chungen von N.s Hand, Anstreichungen am Rand).
216, 2-11 An diesen Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben einander
und oft in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches urwaldhaf-
tes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo im Wett-
eifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und Sich-zu-Grunde-
Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten, gleichsam explodirenden
Egoismen, welche „um Sonne und Licht“ mit einander ringen und keine Grenze,
keine Zügelung, keine Schonung mehr aus der bisherigen Moral zu entnehmen
wissen.] Auch hier liefert die Biologie die Leitvorgabe für das Soziale, vgl. zur
Üppigkeit und Erbarmungslosigkeit tropischer Lebensverhältnisse NK 207, 3-8
(ferner zum Thema Sonne und Nahrungsaufnahme Rolph 1884, 62, zum Ur-
wald und zum dortigen „Zerstörungskampfe“ ebd., 91). Der seltenen Paarung
„Sonne und Licht“ ist N. etwa bei Drossbach 1884, 77 begegnet. N. dürfte in
216, 2-11 die überbordenden Renaissance-Gestalten vom Typ eines Cesare Bor-
gia vor Augen gehabt haben (vgl. NK 117, 17-29), wie sie ihm lange schon etwa
aus Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien her bekannt waren.
216, 11-13 Diese Moral selbst war es, welche die Kraft in’s Ungeheure aufge-
häuft, die den Bogen auf so bedrohliche Weise gespannt hat: — jetzt ist, jetzt
wird sie „überlebt“.] Die Metapher vom gespannten Bogen bestimmt schon die
Vorrede von JGB und kehrt im Laufe des Werkes wieder (vgl. NK 13, 1-3). Die
alte Moral führt also zu einer Spannung, die in Zeiten des Überflusses nach
einer Lösung verlangt, sei es durch hedonistische Abspannung, Mittelmäßig-
keit und „Jesuitismus“ (vgl. NK 134,17-26), sei es durch Abschießen der Pfeile,
durch eine individuell selbstverordnete, neue Spannung, die wiederum der
Mittelmäßigkeit widerstreitet.
216, 26 Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral] In JGB 201, KSA 5, 122,
30 galt „die Furcht“ als „die Mutter der Moral“. Das Sprachspiel von der „Mut-
 
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