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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0780
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760 Jenseits von Gut und Böse

ter der Moral“ ist in der zeitgenössischen Literatur durchaus nicht unbekannt,
vgl. z. B. Reich 1872, 600: „Die Natur ist die Mutter der Moral, theils an sich,
theils durch die Cultur, der sie Raum gibt.“
216, 31 heraufkommen?] Im Druckmanuskript folgt darauf der schließlich ge-
strichene Einschub: „ - es ist die Zeit für Sokrates und sokratische“ (KSA 14,
372).
216, 32 Eckensteher] Vgl. NK 42, 19.
217, 6 Mittelmässigkeit!] Im Druckmanuskript folgt darauf die schließlich ge-
strichene Parenthese: „(was auch Schopenhauer sagen möge, der in diesen
Dingen nicht fein war)“ (KSA 14, 372).

263.
Mehrere stark korrigierte Ansätze zu diesem Abschnitt findet sich in KGW IX
5, W I 8, 171-172. JGB 263 erprobt die Fundamentalopposition zu der unter N.s
Zeitgenossen verbreiteten Überzeugung von der prinzipiellen Gleichheit aller
Menschen, die alle Unterschiede des Ranges nur für äußerliche Zutat hält. Der
„Instinkt für den Rang“ (217, 11) ist nichts Äußerliches, nichts Erworbe-
nes - so wie man als Rekrut die unterschiedlichen Offiziersränge zu unter-
scheiden lernt -, sondern etwas, was angeblich selbst „Anzeichen eines ho-
hen Ranges“ sei (zur Verwandtschaft von „Instinkt für den Rang“ und „Pathos
der Distanz“ siehe Ottmann 1999, 279 u. Wolf 2007, 41). Im Gedankenverlauf
von JGB 263 führt dies dazu, dass der Rang einer Person ohne sichtbare Rang-
abzeichen und weltliche Autorität (vgl. 217, 16-21) verborgen bleiben und nur
von selbst ausgesucht talentierten Seelen erkannt werden kann, die über einen
„Instinkt der Ehrfucht“ (217, 25) verfügen.
Die Ableitung zu Beginn von JGB 263, dass diejenigen, die Ranginstinkt
haben, selbst von hohem Rang sind, provoziert am Ende des Abschnitts sogar
die Schlussfolgerung, dass gerade denjenigen, die gewöhnlich am unteren
Ende der sozialen Skala angesiedelt sind, nämlich dem „niedern Volke“ (218,
19), wegen der Fähigkeit zur schamhaften Distanznahme, der Ehrfurcht vor
Höher- und Andersgeartetem, ausdrücklich „relative Vornehmheit des Ge-
schmacks“ (218, 20 f.) attestiert wird - freilich in sarkastischer Abgrenzung von
den zu diesen Tugenden unfähigen „Gebildeten“ (218, 22). Das im Neunten
Hauptstück wiederholte Plädoyer für Vornehmheit hat also mitnichten den
Zweck, die im Kaiserreich bestehende Sozialordnung unter Rückgriff auf eine
angeblich natürliche Ordnung zu rechtfertigen, sondern zeigt eine geradezu
revolutionäre Spitze, wendet es sich doch vom Ansehen und Anschein ab, um
 
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