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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0781
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Stellenkommentar JGB 263, KSA 5, S. 216-217 761

auf das Innere, ,,[d]ie Feinheit, Güte und Höhe einer Seele“ (217,14 f.) zu schau-
en. Woher der sonst so rabiate Kritiker metaphysischer Wesenheiten wie „See-
le“ nun plötzlich seine Innenwelteinsichten bezieht und welchen ontologi-
schen Status diese „Seele“ haben soll, bleibt freilich nebulös. Stattdessen funk-
tioniert die Provokation, nämlich die Sabotage der gewohnten gesellschaft-
lichen Wertungsparameter.
217, 26 Difference engendre haine] Französisch: „Verschiedenheit erzeugt
Hass“. Es handelt sich um einen berühmten Satz aus Stendhals Roman Le
Rouge et le Noir, der sich trotz N.s Stendhal-Präferenz nicht unter seinen Bü-
chern erhalten hat. Der Roman-Protagonist Julien Sorel reflektiert an der fragli-
chen Stelle den Unterschied zwischen seinen bäuerlichen Mitschülern und ihm
selbst: „Ma presomption s’est si souvent applaudie de ce que j’etais different
des autres jeunes paysans! Eh bien, j’ai assez vecu pour voir que difference
engendre haine, se disait-il un mahn.“ (Stendhal 1866, 184. „Meine Vermutung
wurde so oft bestätigt, dass ich von den anderen jungen Bauern verschieden
war! Nun gut, ich habe genug gelebt, um zu sehen, dass Verschiedenheit Hass
erzeugt, sagte er sich eines Morgens“. Vgl. dazu auch Marti 1989, 565). N. konn-
te die beiden Sätze - unter Auslassung der „paysans“, der „Bauern“ - zitiert
finden in Bourgets Stendhal-Essay. Bourget stellt sich dort vor, wie Stendhal
diese Sätze wiederholt angesichts von Sainte-Beuves Verständnislosigkeit ge-
genüber seinen Werken (Bourget 1883, 279 f.). Dass das Ende von JGB 263 aus-
gerechnet die „Bauern“ als Zeugen einer „relative[n] Vornehmheit des Ge-
schmacks“ aufruft, die den „Gebildeten“ fehle (218, 20-22), ließe sich als ironi-
sche Antwort auf Julien Sorels Andersheitsdünkel interpretieren, der sich von
den „Bauern“ im Priesterseminar so fundamental verschieden wähnte, obwohl
er selbst ebenfalls von einfacher Herkunft, aber von unstillbarem Ehrgeiz be-
seelt war. Bedingung einer solchen Interpretation, die auch den Fortgang von
JGB 263 bis zum Ende von Stendhal bestimmt sieht, ist jedoch, dass N. das
Zitat tatsächlich im Originalwortlaut kannte und nicht bloß in der Adaption
von Bourget, der eben die „Bauern“ einfach wegließ.
217, 28-218, 5 wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus ver-
schlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen Schicksals
vorübergetragen wird; und andrerseits giebt es ein unwillkürliches Verstummen,
ein Zögern des Auges, ein Stillewerden aller Gebärden, woran sich ausspricht,
dass eine Seele die Nähe des Verehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im
Ganzen bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird,
ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem
Christenthume verdankt] So viel „Ehrfurcht vor der Bibel “ - eine sehr protes-
tantisch anmutende Forderung - hätte man womöglich beim späteren Verfas-
 
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