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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0783
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Stellenkommentar JGB 264, KSA 5, S. 218-219 763

2004,116 f. u. Schacht 2005, 290 f.), wonach „ein Mensch [...] die Eigenschaften
und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe“ (219, 3-5). Mit sol-
chen Vorstellungen operierte N. im Spätwerk wiederholt (vgl. NK ÜK JGB 199
u. NK 148, 28-33); sie sollen hier anhand von Haltungen plausibilisiert werden,
die Menschen aus bestimmten Familien von ihren Vorfahren übernommen hät-
ten. Der Abschnitt läuft aus in eine Invektive gegen das Erziehungswesen, das
sich als „die Kunst, zu täuschen“ erweise über die Herkunft, den vererbten
Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen“ (219, TI f.). Diese Invektive, die
dem elitären Ressentiment gegen die Verallgemeinerung von Bildung Luft ver-
schafft, zehrt freilich von einem Persönlichkeitssubstantialismus, der mit der
Eingangserörterung von JGB 264 eigentlich nicht kompatibel ist: Wenn Men-
schen tatsächlich Wesen sind, die von ihren Vorfahren erworbene Eigenschaf-
ten erben, dann bedeutet das ja, dass sie offensichtlich zutiefst von histori-
scher Kontingenz bestimmte Wesen sind, die gerade keinen definitiven Persön-
lichkeitskern haben. Daraus wiederum folgt, dass sie und ihre eigenen
Nachkommen durch Prägung selbst verändert werden können: Spätestens die
Nachfahren des heute erzogenen und gebildeten „Pöbels“, bei dem Bildung
noch über die eigentliche Natur hinwegtäuschen mag, werden sich die Bildung
zueigen gemacht, in ihre Persönlichkeit integriert haben. JGB 262 hat solche
Züchtungsvorgänge und ihre hohe Effektivität eben erst anschaulich geschil-
dert. Die (angreifbaren) erb- und evolutionsbiologischen Annahmen im ersten
Teil von JGB 264 entziehen demnach der Missbilligung von Allgemeinbildung
im zweiten Teil die Grundlage. Man mag die Inszenierung dieser Dissonanz zu
den besonders ausgeklügelten Exempeln aus N.s Werkzeugkasten fortwähren-
der Irritation rechnen. Der Beginn von JGB 264 lässt sich jedenfalls auch als
eine ins Abstrakt-Anonyme transponierte Genealogie von N.s eigenem Herkom-
men lesen, vgl. Devreese/Biebuyck 2006, 266.
219, 3-6 Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und
Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe: was auch der Augenschein
dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse.] Im Entwurf in KGW IX 5,
W I 8, 271, 16-20 u. 272, 13-14 heißt es: „Es ist gar nicht möglich, daß ein
Mensch nicht die Eigenschaften rund Vorlieben'' seiner Eltern und ''Altvordern''
Voreltern rim Leibe'' habe: was auch der Augenschein dagegen sagen ''mag.''
Dies ist das Problem der Rasse:r(- ich rede nicht von ,arisch4 und »semitisch4
und was sonst von dergleichen Gezänk ''heute'' auf der Gasse rsich laut macht -''
u nach ihrem Kothe riecht)'144. Die Parenthese, die sich scharf gegen den rassi-
schen Antisemitismus namentlich von N.s Schwager Bernhard Förster richtet,
hat N. in der Druckfassung ersatzlos gestrichen. Die in JGB 264 propagierte
Theorie einer Vererblichkeit der von den Vorfahren erworbenen Eigenschaften,
die man mit Lamarck zu assoziieren pflegt (den N. nicht im Original gelesen
 
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