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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0787
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Stellenkommentar JGB 267, KSA 5, S. 220 767

267.
220, 30-221, 6 Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon
ihre Kinder lehren: siao-sin „mache dein Herz klein!“ Dies ist der eigentliche
Grundhang in späten Civilisationen: ich zweifle nicht, dass ein antiker Grieche
auch an uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserkennen
würde, — damit allein schon giengen wir ihm „wider den Geschmack“. —] Die
unmittelbare Quelle für das chinesische Zitat ist der von N. gelegentlich be-
nutzte Band Hommes et dieux von Paul de Saint-Victor, wo es heißt: „II y a en
Chine un proverbe que les meres apprennent ä leurs fils des le berceau, et
auquel ce peuple abject doit peut-etre son incurable bassesse: ,Siao-sin; rape-
tisse ton coeur.4“ (Saint-Victor 1867, 143; Nachweis bei Guarde-Paz 2012, 314.
„Es gibt in China ein Sprichwort, das die Mütter ihre Söhne von der Wiege an
lehren, und dem dieses gemeine Volk vielleicht seine unheilbare Niedertracht
verdankt: ,Siao-sin, mach dein Herz klein/“). Auch Hippolyte Taine zitiert in
seinen Origines de la France contemporaine (mit falscher Seitenangabe) nach
Huc 1862, 1, 264 das chinesische Sprichwort; dort aber entfällt der Hinweis auf
die Mütter und Kinder, so dass als N.s direkte Quelle nur Saint-Victor in Frage
kommt („En Chine, le principe de la morale est tout oppose: ,Au milieu des
embarras et des difficultes, les Chinois disent toujours siao-sin, c’est-ä-dire ra-
petisse ton coeur.4“ Taine 1885, 128, Fn. 1, Nachweis bei Campioni 1996, 417 f.
„In China ist das Prinzip der Moral ganz entgegengesetzt: ,Inmitten von Ver-
druss und Schwierigkeiten sagen die Chinesen immer siao-sin, das heißt: mach
dein Herz klein/“). Die Assoziation von „Chinesenthum“ und Verkleinerung
des Individuums begegnet bei N. in den Achtziger Jahren häufig (vgl. z. B. NL
1884, KSA 11, 26[417], 263).
Den in 221, 4 benutzten Begriff der „Selbstverkleinerung“ benutzte N. in
einem Exzerpt aus Schmidts Ethik der alten Griechen: „allgemeines Leiden der
Modernen:,Selbstverkleinerung4 p. 399“ (NL 1883, KSA 10, 8[15], 338, 29 f.). An
dieser Stelle handelte Schmidt nach Aristoteles „in Uebereinstimmung mit der
auch sonst geläufigen Ausdrucksweise“ vom „Wesen des im engeren Sinne
»Wahrhaften4“ (vgl. NK 209, 18 f.), das in die „offene Selbstdarstellung gesetzt“
worden sei (Schmidt 1882, 2, 399. Unterstreichung von N.s Hand): „Die aristote-
lische Auffassung, dass jede Tugend zwischen zwei Fehlern in der Mitte liegt
trifft wohl in wenigen Fällen so vollständig zu wie in diesem, denn hier besteht
die eine Abweichung von dem Richtigen in dem Verhalten dessen, der mehr,
die andere in dem dessen, der weniger scheinen will als er ist: der erstere ist
der Prahler, der letztere der Selbstverkleinerer oder, wie er mit einem vielbe-
sprochenen griechischen Ausdrucke genannt wird, der Eiron. Das Motiv des
ersteren ist der Wunsch Vortheile zu erreichen, die ihm sonst entgehen wür-
den, oder doch wenigstens mehr zu gelten als ihm zukommt, das des letzteren
 
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