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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0799
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Stellenkommentar JGB 275, KSA 5, S. 227-228 779

sehe Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre gebo-
ren worden?“ (Lessing 1867, 2, 112, gegenüberliegende Seite von N. (?) mit
Eselsohr markiert.) Friedrich Theodor Vischer merkte dazu in seiner von N.
gelegentlich herangezogenen Aesthetik (Crescenzi 1994, 400; Venturelli 2003,
180-198) trocken an: „Raphael ohne Hände ist gar nicht zu denken, denn hätte
er nie wirklich gemalt; so hätte auch sein inneres Malen sich nicht entwickeln,
er hätte nicht malerisch erfinden können, und hätte er nicht meisterhaft ge-
malt, so hätte er nicht malerisch genial erfinden können.“ (Vischer 1851, 3,
13. Zur Karriere des Motivs vgl. z. B. Löhneysen 1992, 10-16 u. ö.) N. tat seine
Hochachtung gegenüber dem Renaissance-Genie des nur vermeintlich christli-
chen Malers Raffael (1483-1520) beispielsweise in GD Streifzüge eines Unzeit-
gemässen 9 kund, vgl. NK KSA 6, 117, 15-18, ferner Philippon 1985.
228, 10-12 um den Kaipöq, „die rechte Zeit“ — zu tyrannisiren, um den Zufall
am Schopf zu fassen!] Kaipoc;, der rechte Augenblick, wird in der griechischen
Mythologie gelegentlich als Gott personifiziert (vgl. Pausanias: Beschreibung
Griechenlands V 14, 9). Der locus classicus für den Kairos im Neuen Testament
ist Markus 1, 15: „Die Zeit ist erfüllet, und das Reich Gottes ist herbey gekom-
men. Thut Buße, und glaubet an das Evangelium.“ (Die Bibel: Neues Testament
1818, 42. Im Original: „Ötl nEnAppwTai ö Kaipoc; Kai pyyiKEV p ßamAcia toü
0eou- pETavociTE Kai tuctteuete ev Ttp süayysAia).“) Vgl. NK KSA 6, 407, 5f.
275.
228,14-16 Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schär-
fer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist — und verräth sich selbst
damit.] Der Satz ist die Variation einer bereits in Za II Von den Tugendhaften
enthaltenen Sentenz: „Und Mancher, der das Hohe an den Menschen nicht
sehen kann, nennt es Tugend, dass er ihr Niedriges allzunahe sieht: also heisst
er seinen bösen Blick Tugend.“ (KSA 4,122, 25-27) Vorbereitende Aufzeichnun-
gen finden sich in NL 1882, KSA 10, 1[92], 32, 19 f.; 3[1]4, 54, 11 f. u. NL 1883,
KSA 10,12[1]120, 393,15 f. Bei N. gehört die Herabsetzung menschlichen Vermö-
gens zu den Merkmalen des christlichen Menschenbildes (Erbsünde!). Die in
JGB 275 beschriebene Praxis, statt des Hervorragenden nur das Minderwertige
am Gegenüber zu sehen, ist für Scheelsucht (vgl. z. B. NK KSA 6, 362, 7-10)
wohl stets konstitutiv. Die Banalität dieser Erkenntnis wird dadurch kompen-
siert, dass sie in den Rahmen der Vornehmheitsproblematik gestellt ist: Der
missgünstige Scheelsüchtige ist das Gegenteil eines vornehmen Charakters.
 
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