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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0809
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Stellenkommentar JGB 284, KSA 5, S. 231-232 789

Erkenntniss nutzbar zu machen weiss“. Zugespitzt wird der Gedanke dann in
AC 54, KSA 6, 236, wo „Überzeugungen“ nurmehr als Mittel einer experimen-
tellen Skepsis rangieren (vgl. NK 6/2, S. 253-258). Die Freiheit des Zukunftsphi-
losophen - ist er ein Vornehmer? - besteht in allen drei Fällen darin, dass er
sich keiner Meinung und keinem Affekt unterwirft, sondern über sie verfügt.
Der Unterschied zur stoischen Forderung, sich der Affekte (und falschen Mei-
nungen) zu entledigen, besteht darin, dass sie bei N. nicht zurückgedrängt,
sondern zum Vehikel, zum Reittier gemacht werden sollen. Offensichtlich ver-
traute er der Herrschaftsmacht des Individuums stärker als die Stoiker es getan
hatten. Zu N.s Begriff der Dummheit im Vergleich zu Schopenhauer ausführlich
Müller-Lauter 1999b, 393-412.
231, 27 f. die schwarze Brille] Die schwarze Brille verdunkelt die Wirklichkeit,
schützt aber vor allem die Augen. Als metaphorische Wendung war sie zu N.s
Zeit geläufig, vgl. z. B. Carl von Gersdorff an N. am 14. 04.1874: „ich sehe Dich
Dein Gehirn und Dein Herz durch eine schwarze Brille betrachten, wobei na-
türlich diese beiden Organe Dir in eben so unvortheilhaftem Lichte erschei-
nen, wie die Welt während der strengen Augencur“ (KGB II/4, Nr. 534, S. 442,
Z. 10-13).
231, 29-232,1 Und jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft
wählen, die Höflichkeit.] Natürlich konterkariert der Satz ironisch die Erwar-
tung, die Höflichkeit als eine Tugend bestimmt zu sehen. Da sie aber eine
Kunst des Verbergens ist, nämlich dessen, was man wirklich über den anderen
denkt, könnte sie auch in einer traditionellen, an lauterer Wahrhaftigkeit ori-
entierten Moral als Laster gelten. Vgl. NK 104, 4 f.
232,1-6 Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des
Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein
sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei Berührung
von Mensch und Mensch — „in Gesellschaft“ — unvermeidlich-unreinlich zugehn
muss.] Diese vier Tugenden - statt des „Mitgefühls“ stand auch in KGW IX 2,
N VII 2, 71, 2-12 u. NL 1885/86, KSA 12, 2[14], 74 (entspricht KGW IX 5, W I 8,
255) noch „Mitleid“, was in JGB mit seiner wiederholten Mitleidskritik dann
offenbar nicht mehr opportun erschien - sollten nach KGW IX 2, N VII 2, 71,
14-28 (= NL 1885/86, KSA 12,1[188], 52, 21-28) als Buchgliederung dienen: „Ers-
tes Hauptstück: / unser Muth / Zweites Hauptstück: unser Mitleid / Drittes
Hauptstück: unsere Einsicht / Viertes Hauptstück: unsere Einsamkeit.“ Vier
„Cardinal-Tugenden“ (KGW IX 2, N VII2, 71, 2) anzunehmen, ist in der Philoso-
phie alte Tradition; seit Platon werden aber OGJ(ppooi)VT] (temperantia, Beson-
nenheit), ävöpeia (fortitudo, Mut/Tapferkeit), (ppovpau; (sapientia, Weisheit)
 
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