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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0814
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794 Jenseits von Gut und Böse

brief des Paulus, wonach Rechtfertigung nicht „durch der Werke Gesetz“, „son-
dern durch des Glaubens Gesetz“ (Römer 3, 27) erfolge. Während JGB 287 der
„alten religiösen Formel“ eine säkulare Wendung geben will, indem der Ab-
schnitt Vornehmheit als einen „Glauben“ identifiziert, aber nicht als Glauben
an Gott, sondern an sich selbst, an die eigene Erhabenheit, hat sich M 22 auf
Seiten der Produktiven und damit dessen geschlagen, was die kontroverstheo-
logische Tradition Werkgerechtigkeit nannte: „Werke und Glaube. — Im-
mer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrthum fortge-
pflanzt: dass es nur auf den Glauben ankomme und dass aus dem Glauben die
Werke nothwendig folgen müssen. Diess ist schlechterdings nicht wahr, aber
klingt so verführerisch [...]. Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisst Übung,
Übung, Übung! Der dazu gehörige ,Glaube4 wird sich schon einstellen, — des-
sen seid versichert!“ (KSA 3, 34, 2-16, vgl. zu Luthers Auffassung von sola fide
namentlich in der Abhandlung Von der Freiheit eines Christenmenschen das N.
wohlbekannte Resümee bei Schopenhauer 1873-1874, 2, 482 f., ausführlich
zum Thema NK KSA 3, 34, 2.) Auf solche „Übung“ ist freilich der Vornehme
nach Maßgabe von JGB 287 nicht angewiesen; er braucht keine Selbstbestäti-
gung im Tun, in den Werken, sondern kreist in seiner Selbstgewissheit nur um
sich selbst, zumal sein „Glaube“ ja im Unterschied zu Paulus und Luther reine
Selbstbezüglichkeit bedeutet: den Glauben an sich selbst. In dieser größmögli-
chen Autarkie ist der Vornehme gottgleich. Demgegenüber rechtfertigt sich bei
N. das sprechende Ich unvornehm unentwegt in seinen Werken. Vgl. auch Jas-
pers 1981, 196.
233,15f. Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.] In KGW IX 2,
N VII 2, 100, 38-40 notiert sich N. den Satz in folgender Fassung: „- die vor-
nehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. -“ Er folgt unmittelbar auf die in NK ÜK
JGB 285 zitierte Vorarbeit zu JGB 285 (KGW IX 2, N VII 2, 100, 17-36). In seinen
späten Werken kam N. gelegentlich auf „die Ehrfurcht vor sich selbst“ als
„oberste Ehrfurcht“ zurück, wie sie die drei Vorsteher der pädagogischen Pro-
vinz in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren (2. Buch, 1. Kapitel) charakteri-
sieren (vgl. NK 132, 20 f. u. NK KSA 6, 151, 25 f.), nämlich als eine Synthese aus
drei verschiedenen Ehrfurchten und ihnen entsprechenden Religionen (vgl.
den ausführlichen Quellenauszug in NK KSA 6,152,13, der der hier nachfolgen-
den Passage vorausgeht): ,„Zu welcher von diesen Religionen bekennt ihr euch
denn insbesondere?4 sagte Wilhelm. ,Zu allen dreien, erwiederten jene: denn
sie zusammen bringen eigentlich die wahre Religion hervor; aus diesen drei
Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor sich selbst, und
jene /190/ entwickeln sich abermals aus dieser, so daß der Mensch zum Höchs-
ten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, daß er sich selbst für das Beste halten
darf, was Gott und Natur hervorgebracht haben, ja, daß er auf dieser Höhe
 
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