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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0828
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808 Jenseits von Gut und Böse

noch'' [etwas eben noch Wunderliches u. Buntes, das ranfieng'' seine Neuheit
auszuziehenj zur ,Wahrheit4 werden wollte, ich meine unsterblich zugleich u.
tödtlich langweilig / Todten=Äcker, wo kleine Kränze rSteine'' u. Hügel, lauter
Todtes an das, was einst lebte, erinnern soll“ (KGW IX 2, N VII 2, 58,1-16). Das
Motiv des Apollon Sauroktonos, der die Eidechsen ansticht, sollte N. in EH M 1
zwar aufnehmen, klammerte es aber in JGB 296 aus, vgl. NK KSA 6, 329, 24-
330, 3. Eine bereits stärker konkretisierte Vorarbeit zu JGB 296 stellt KGW IX 2,
N VII 2, 58, 17-34 u. 57, 24-34 dar. In dieser Fassung fehlen noch die direkten
Hinweise auf das Chinesische. Das ändert sich mit der Fassung in KGW IX 5,
W I 8, 209, 1-28, die auch explizit „Mandarinen=Weisheit“ betitelt ist und den
Untertitel trägt: „Eine Handvoll schlimmer Gedanken“. KSA 14, 374 bezieht die
Zeile „Vorrede u Selbstgespräch“ (KGW IX 5, W I 8, 210) ebenfalls auf diese
Vorarbeit, was allerdings zweifelhaft erscheint.
Der melancholische Ton dieses Schlusstextes von JGB zehrt weniger von
einer allgemeinen Sprachkritik, der zufolge das Eigentliche und Individuelle
nicht im Verallgemeinerungsmedium Sprache ausgedrückt werden könne, son-
dern davon, dass die Sprache festschreibt und damit das Gedachte petrifiziert,
ihm das Leben raubt. Das wiederum ist die genaue Umkehrung jener Kritik
Platons in Phaidros 275e, auf die der erste Satz von JGB 296 anzuspielen scheint
(vgl. NK 239, 19 f.), wonach nämlich Malerei und Schrift Fiktives ungebührlich
ins Leben riefen. Das decndence-Bewusstsein, das JGB 296 grundiert, sieht die
eben noch jugendfrisch anmutenden Gedanken absterben (während sie doch
eigentlich leben sollten) - und zwar unter der Hand des malenden Schreibers
absterben, der als solcher nur jene Gedanken zu erhaschen vermag, die ohne-
hin schon dem Tod geweiht sind. Die formale Pointe von JGB 296 besteht darin,
dass es sich dabei um eine direkte Ansprache des Ich an seine Gedanken han-
delt (vgl. ähnlich FW 383, KSA 3, 637 f.), als ob sie Lebewesen wären, und
dieses Ich über ihr rasches Verwelken so trauert wie Eltern um sterbende Kin-
der trauern. Abgestorbene Gedanken sind es, die die Philosophiegeschichte
bevölkern und die man fälschlich für die Philosophie selbst zu halten pflegt.
JGB 296 ist eine unmissverständliche Warnung an die Adresse der Leser, die
Gedankenflut des Buchs nicht zu stauen, abzutöten und in Lehren festzu-
schreiben - eine Warnung, die am Ende des Werkes eigentlich prominent und
richtig platziert zu sein scheint (anstelle einer drohenden Vorrede als captatio
malevolentiae wie in AC), um dennoch bei vielen Exegeten N.s auf taube Ohren
zu stoßen. JGB 296 ist aber auch eine nachgeschobene captatio benevolentiae,
bei den Lesern um Verständnis dafür werbend, dass die tatsächlich jugendfri-
schen Gedanken, das wirklich Lebende im gesamten Werk JGB nicht eingefan-
gen ist, so dass es zwangsläufig „Vorspiel“ bleiben muss.
Genau und ausführlich analysiert JGB 296 Benne 2013 (dazu ergänzend
Wollek 2013), zur Interpretation siehe auch Brusotti 1997, 668, Müller-Lauter
 
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