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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0832
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812 Jenseits von Gut und Böse

ten erlaubt (Meinhold 2004). Das Reimschema ist dafür von apollinischer
Strenge: abbaa, ein umarmender Reim mit verdoppelter Schlusszeile, wodurch
jede Strophe ein Achtergewicht erhält und entschieden abgeschlossen wird, -
daher gibt es auch kein Strophenenjambement. Diese Strophenform - zumal
mit halbiertem zweitem Vers - ist selten, [...], antike Vorbilder konnte ich keine
finden“ (Zittel 2014, 214 f.).
„Aus hohen Bergen“ gilt als ein lyrisches Spitzenprodukt N.s und hat als
vermeintlich autobiographischer Bekenntnistext, geboren aus der Enttäu-
schung, den jungen Heinrich von Stein Wagner nicht abspenstig gemacht zu
haben, große Aufmerksamkeit deutungswütiger Interpreten auf sich gezogen.
Die biographische Lesart haben beispielsweise Pestalozzi 1970,198-246, Hösle
1996 und Bernauer 1998, 166-184 propagiert; auch Arthur Schnitzler schien
dafür zu plädieren, als er am 27. 07.1891 Hugo von Hofmannsthal wissen ließ:
„Gelesen wird mancherlei [...] besonders Nietzsche - zuletzt hat mich ein
Schlußcapitel und das Schlußgedicht zu Jenseits von Gut und Böse ergriffen. -
Erinnern Sie sich? Nietz’sche Sentimentalität - Weinender Marmor! Stellen, die
sogar auf Weiber wirken, ohne daß man den Stellen oder den Weibern bös
werden müßte“ (zitiert nach Kr I, 210). Demgegenüber deutet Zittel 2014, 230
„Aus hohen Bergen“ als „Minidrama, ein Schauspiel, ersonnen, um eine im
Nachgesang imaginierte Figur mit Hirngespinsten zu unterhalten“. Divergente
Interpretationen bieten Coker 1998; Lampert 2001, 295-303; Meinhold 2004;
Burnham 2007, 229-235; Acampora/Ansell-Pearson 2011, 212-216 u. Görner
2012, 56 f.; zu N.s Lyrik allgemein siehe die Übersicht in Sebastian Kaufmanns
Kommentar zu den Idyllen aus Messina (NK 3/1, S. 467-479).
241, 8-17 War’s nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau / Heut schmückt
mit Rosen? / Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stossen / Sich Wind und
Wolke höher heut in’s Blau, / Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau. //
Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt: — / Wer wohnt den Sternen / So
nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen? / Mein Reich — welch Reich hat weiter
sich gereckt? / Und meinen Honig — wer hat ihn geschmeckt? ....] In der Heinrich
von Stein gewidmeten Fassung sind die Strophenfolge und der Wortlaut vari-
iert: „Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt: / Wer wohnt den Ster-
nen / So nahe, wer des Lichtes Abgrunds-Fernen? / Mein Reich - hier oben
hab ich’s mir entdeckt - / Und all dies Mein - ward’s nicht für euch ent-
deckt? // Nun liebt und lockt euch selbst des Gletschers Grau / Mit jungen
Rosen, / Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen / Sich Wind und
Wolke höher heut’ in’s Blau /Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-
schau -“ (KSB 6/KGB III/l, Nr. 562, S. 565, Z. 8-17). Was in 241, 8f. wie ein
kühnes poetisches Bild anmutet, hat womöglich in einer optisch-meteorologi-
schen Erscheinung seinen Realgrund, nämlich den sogenannten Gletscherro-
 
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