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Bucer, Martin; Stupperich, Robert [Hrsg.]; Neuser, Wilhelm H. [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Strohm, Christoph [Hrsg.]; Buckwalter, Stephen E. [Bearb.]; Schulz, Hans [Bearb.]
Martin Bucers Deutsche Schriften (Band 10): Schriften zu Ehe und Eherecht — Gütersloh, 2001

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https://doi.org/10.11588/diglit.30230#0028
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I. WIEDERHEIRAT EINES VERLASSENEN EHEPARTNERS

Es ist bedauerlich, daß außer dieser und den drei darauffolgenden Schriften7 keine
weiteren Gutachten der Straßburger Prediger zur Lösung von eherechtlichen Fäüen
vor der Einsetzung des Ehegerichtes 1529 überliefert sind. Aber schon diese Quel-
len belegen auf eindrückhche Weise, wie selbstbewußt die im Entstehen begriffene
evangelische Pfarrerschaft Straßburgs bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt unter
Mißachtung der bisher geltenden bischöflichen Judikatur sowie der Anordnungen
des kanonischen Rechts, dagegen aber unter ausdriicklicher Berufung auf die Hei-
lige Schrift, rechtswirksame Urteile zu fällen beanspruchte.
Nach geltendem kanomschen Recht konnte im 16. Jahrhundert ein Ehepaar, das
die Auflösung seiner Ehe wünschte, nur die Trennung von Tisch und Bett (separatio
a mensa et thoro, divortium quoad thorum et mensam), niemals aber die eigentliche
Ehescheidung (separatio a vinculo matrimonii, divortium quoad vinculum) erlan-
gen.8 Die separatio a mensa et thoro hob die eheliche Gemeinschaft auf, ohne das
Eheband an sich, das grundsätzlich unauflöslich blieb, zu lösen. Es war also für ei-
nen getrennten Ehepartner unmöglich, eine neue Ehe einzugehen, solange sein ge-
schiedener Ehegatte noch lebte.
Die vorliegende Quelle dokumentiert die Umwälzung dieser jahrhundertealten Be-
stimmung durch die reformatorische Bewegung. Das vom Pfarrer der St. Thomas-
Kirche Anton Firn9 verfaßte und von Martin Bucer, zu dem Zeitpunkt noch Pfarrer
an St. Aurehen, Wolfgang Capito10, Propst von St. Thomas (und somit hochrangig-
stem Kirchenmann Straßburgs) und drei anderen Prädikanten mitunterzeichnete
Gutachten erteilt den Pfarrkindern der Thomaskirche Heinrich Kieffer und Elisa-
beth Frenckin, die schon seit Jahren von ihrem jeweiligen Ehepartner getrennt le-
ben, eme nachträgliche Einsegnung ihrer de facto bestehenden und vom bischöf-
hchen Ehegencht aufgrund des Tatbestandes der »desertio« geduldeten1 *, aber aus
kanonischer Sicht nur unzureichend legitimierten neuen Ehe. Das kirchhche Recht
gab nämlich der ersten Ehe unbedingten Vorrang und erklärte die zweite bei etwai-
ger Rückkehr des - auch schon seit langem - abwesenden Ehepartners für nichtig.12
Zwar konnten sich Kieffer und die Frenckin auf ein bischöfliches »Tolleramus»13
berufen, Bischof Wilhelm von Honstein hatte aber nur Monate zuvor wegen angeb-
lichen Mißbrauchs seine bisherige, seiner Meinung nach zu großzügige Praxis der
Erlaubnis der Wiederheirat nach Desertion ausdrücklich zurückgenommen und al-
len Straßburger Klerikern - und somit auch den Unterzeichnern dieses Gutach-
tens - unter Strafandrohung eingeschärft, viel restriktiver vorzugehen.14

7. Vgl. unten Nr. 2, S. 33-37; Beilage zu Nr. 2, S. 40-43; Nr. 3, S. 47-50. Die Datierung des Stük-
kes Nr. 4, S. 55 —57 lst unsicher, könnte aber auch m die Zeit vor Dezember 1529 fallen.
8. Vgl. das Decretum pro Armenus des Konzils von Florenz aus dem Jahre 1439 (=DS 1327).
9. Zu ihm vgl. unten Anm. 16 und S. 27, Anm I.
10. Zu ihm vgl. unten S. 29, Anm. 38.
11. Vgl. unten Anm. 14.
12. Decr. Grat. II, C. 34, qu. 1 et 2, c. 1 f., Friedberg I, Sp. 1256-1258.
13. Hierzu vgl. unten S. 27, Anm. 10 sowie Safley, S. 20.
14. Der betreffende Passus des an alle Straßburger Kleriker gerichteten bischöflichen Mandats
 
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