Nr. 4
Gutachten Martin Bucers
zur Aufkündigung eines Eheversprechens
[ca. 1530?]
Einleitung
Das spätmittelalterliche kanonische Eherecht war von der Spannung zwischen zwei
entgegengesetzten Ehetheonen bestimmt: Die Rechtsschule des Petrus Lombardus
(gest. 1160) betrachtete die durch eine auf die Gegenwart gerichtete, übereinstim-
mende Willenserklärung (»consensus per verba de praesenti«) zustande gekommene
Ehe als unauflöslich, unabhängig davon, ob sie durch den Beischlaf vollzogen wurde
oder nicht.1 Dagegen faßte die Schule von Gratian den Vollzug der copula carnahs
als definierendes Moment der Eheschließung auf: Erst der Beischlaf begründe eine
vollgültige, unauflösliche Ehe.2 Zwar machte Papst Alexander III. (1159-1181) bei
seinem Versuch, beide Theorien in Einklang miteinander zu bringen, wichtige Kon-
zessionen an die Schule von Gratian - so bestimmte er etwa, daß der Beischlaf, der
auch auf ein ausdrücklich für die Zukunft gegebenes Eheversprechen (»sponsaha
per verba de futuro«) folgt, ein unauflösliches matrimonium consummatum zu-
stande kommen Iasse seine Gesetzgebung lief aber insgesamt auf die Bestätigung
des Grundsatzes des Lombarden hinaus, daß schon der alleimge Ehekonsens eine
sakramentale, unauflösliche Ehe zustande brachte.3
Dies hatte konkrete Folgen für die Menschen im Spätrmttelalter: Eleimliche Ehen,
die ohne Zustimmung der Eltern durch eine gemeinsame, auf die Gegenwart gerich-
tete Willenserklärung entstanden waren, blieben aus kirchhcher Sicht gültige, von
Gott gestiftete Ehen. Obwohl Papst Innocenz III. (1198-1216) in Einklang mit der
Tendenz der Zeit, für die Kirche einen zunehmenden Einfluß auf den Vorgang der
Eheschließung zu erlangen, die öffentliche Trauung »in facie ecclesiae« vor Pfarrer
und Zeugen forderte4, sprach er den heimlichen Ehen die Gültigkeit nicht ab und
trug somit zur rechtlich unklaren Situation bei, die am Vorabend der Reformation
herrschte5 und bei der die geistlichen Ehegenchte über sich widersprechende Be-
1. Vgl. DS 756; Plöchl II, S. 307; Staehelin, Ehescheidung, S. 3; Harrington, S. 5 5.
2. Vgl. Decr. Grat. II, C. 27, qu. 2, c. 34 und 39, Friedherg I, Sp. 1073 h; Liber Extra, lib.4, tit. 1,
c. 30, Friedberg II, Sp. 672. Vgl. dazu TRE 9, S. 335,18-24; Feine, S.431; Plöchl II, S. 306. Eine hilf-
reiche schematische Gegenüberstellung beider Theorien bei Brundage, Law, Sex, and Christian So-
ciety, S. 237.
3. Vgl. auch Decr. Grat. II, C. 30, qu. 5, Dicta Gratiam post c. 8f., Friedherg I, Sp. 1106f.
4. Kanon 51 des vierten Laterankonzils von 1215, Liber Extra, hb. 4, tit. 3, c. 3, Friedherg II,
Sp.Ö79f. = DS 817.
5. Das Konzil von Florenz formulierte 1439: »Causa efficiens matrimonn regulanter est mutuus
consensus per verba de praesenti expressus«, DS 1327.
Gutachten Martin Bucers
zur Aufkündigung eines Eheversprechens
[ca. 1530?]
Einleitung
Das spätmittelalterliche kanonische Eherecht war von der Spannung zwischen zwei
entgegengesetzten Ehetheonen bestimmt: Die Rechtsschule des Petrus Lombardus
(gest. 1160) betrachtete die durch eine auf die Gegenwart gerichtete, übereinstim-
mende Willenserklärung (»consensus per verba de praesenti«) zustande gekommene
Ehe als unauflöslich, unabhängig davon, ob sie durch den Beischlaf vollzogen wurde
oder nicht.1 Dagegen faßte die Schule von Gratian den Vollzug der copula carnahs
als definierendes Moment der Eheschließung auf: Erst der Beischlaf begründe eine
vollgültige, unauflösliche Ehe.2 Zwar machte Papst Alexander III. (1159-1181) bei
seinem Versuch, beide Theorien in Einklang miteinander zu bringen, wichtige Kon-
zessionen an die Schule von Gratian - so bestimmte er etwa, daß der Beischlaf, der
auch auf ein ausdrücklich für die Zukunft gegebenes Eheversprechen (»sponsaha
per verba de futuro«) folgt, ein unauflösliches matrimonium consummatum zu-
stande kommen Iasse seine Gesetzgebung lief aber insgesamt auf die Bestätigung
des Grundsatzes des Lombarden hinaus, daß schon der alleimge Ehekonsens eine
sakramentale, unauflösliche Ehe zustande brachte.3
Dies hatte konkrete Folgen für die Menschen im Spätrmttelalter: Eleimliche Ehen,
die ohne Zustimmung der Eltern durch eine gemeinsame, auf die Gegenwart gerich-
tete Willenserklärung entstanden waren, blieben aus kirchhcher Sicht gültige, von
Gott gestiftete Ehen. Obwohl Papst Innocenz III. (1198-1216) in Einklang mit der
Tendenz der Zeit, für die Kirche einen zunehmenden Einfluß auf den Vorgang der
Eheschließung zu erlangen, die öffentliche Trauung »in facie ecclesiae« vor Pfarrer
und Zeugen forderte4, sprach er den heimlichen Ehen die Gültigkeit nicht ab und
trug somit zur rechtlich unklaren Situation bei, die am Vorabend der Reformation
herrschte5 und bei der die geistlichen Ehegenchte über sich widersprechende Be-
1. Vgl. DS 756; Plöchl II, S. 307; Staehelin, Ehescheidung, S. 3; Harrington, S. 5 5.
2. Vgl. Decr. Grat. II, C. 27, qu. 2, c. 34 und 39, Friedherg I, Sp. 1073 h; Liber Extra, lib.4, tit. 1,
c. 30, Friedberg II, Sp. 672. Vgl. dazu TRE 9, S. 335,18-24; Feine, S.431; Plöchl II, S. 306. Eine hilf-
reiche schematische Gegenüberstellung beider Theorien bei Brundage, Law, Sex, and Christian So-
ciety, S. 237.
3. Vgl. auch Decr. Grat. II, C. 30, qu. 5, Dicta Gratiam post c. 8f., Friedherg I, Sp. 1106f.
4. Kanon 51 des vierten Laterankonzils von 1215, Liber Extra, hb. 4, tit. 3, c. 3, Friedherg II,
Sp.Ö79f. = DS 817.
5. Das Konzil von Florenz formulierte 1439: »Causa efficiens matrimonn regulanter est mutuus
consensus per verba de praesenti expressus«, DS 1327.