Nr.i
Gutachten der Straßburger Prediger
zur Wiederheirat eines verlassenen Ehepartners1
21. Dezember 1524
Einleitung
Diese einzigartige Quelle stellt die erste Dokumentation einer unter Absehung der
Autorität des Bischofs getroffenen eherechtlichen Entscheidung durch die sich for-
mierende evangelische Pfarrerschaft Straßburgs dar.2 Es war ja von Anfang an em
Anliegen der reformatorischen Bewegung, die Zuständigkeit des Bischofs und über-
haupt der Kirche für die Ehegerichtsbarkeit radikal in Frage zu stellen.3 Vielmehr
sollte es Sache der weltlichen Obrigkeit sein, die Jurisdiktion in Ehefragen auszu-
üben.4 Aufgrund der zögerlichen und nur widerwilligen Annahme dieses neuen
Aufgabenbereiches durch den Rat mußten die Straßburger Prediger aber bis zum
16. Dezember 1529 auf die Einsetzung eines städtischen Ehegerichtes warten.5 In
der Zwischenzeit blieb lhnen, da sie von ihren Gemeindegliedern als Rechtsinstanz
in Anspruch genommen wurden, nichts anderes übrig, als sich selber der Entschei-
dung von heiklen Eherechtsstreitigkeiten zu stellen, deren Lösung sie dem Bischof
absprachen, welche zu übernehmen der Rat aber noch nicht bereit war.6
1. Entsprechend der 1m Straßburger Stadtarchiv vorhandenen Titulierung lst dieses Gutachten
auch unter dem Namen »Declaration d’Anton Firn sur une question matnmomale« m der For-
schung bekannt. Vgl. Selderhuis, Huwelijk, S. 89 und 422 (= Marriage, S. 70 und 375).
2. Ihre Bedeutung erkannte schon der Bucer-Forscher Fran^ois Wendel, der sie »la premiere ma-
mfestation d’independance ä l’egard de l’officiahte de l’eveque en matiere de juridiction matnmo-
niale« nannte. Wendel, Le mariage ä Strasbourg, S. 71. Vgl. auch die Besprechung dieses Gutachtens
bei BCor I, Nr. 85, S.315; Köhler, Zürcher Ehegericht II, S.377; Selderhuis, Huwelijk, S. 89 (= Mar-
riage, S.70); Millet, Nr.233, S. 78. Anfang und Ende des Gutachtens sind als Faksimile in Ficker/
Winckelmann, Handschnftenproben II, Nr. 62 wiedergegeben.
3. Daß die Ehe ein »äußerlich weltlich Ding« wurde, war eine Konsequenz aus der Bestreitung
ihres Sakramentscharakters durch Luther in seiner Schrift »De captivitate Babylonica ecclesiae«
1520 (WA 6, S. 550,21-560,18). Vgl. Köhler, Luther als Eherichter, S. 18; Dieterich, Das protestanti-
sche Eherecht, S. 38-40.
4. Zur allmählichen Entstehung und Entwicklung der neuen, von den Evangelischen geforderten
städtischen Ehegenchten m der Eidgenossenschaft sowie m den Reichsstädten des gesamten süd-
westdeutschen Raumes vgl. Köhler, Zürcher Ehegencht I und II.
5. Köhler, Zürcher Ehegericht II, S. 370-388; Wendel, Le mariage ä Strasbourg, S.65-76.
6. Auch Luther klagte in einem Brief vom April/Mai 1524 über die vielen Ehefälle, die ihm »auf
dem Halse« lagen und lhn von seiner eigenthchen Arbeit abhielten, WA Br 12, S.60,5—7 (dieser
Brief war nicht, wie in der WA behauptet, an Bucer, sondern an Nicolas Prugner gerichtet, BCor I,
Nr.65bis,S.249f.).
Gutachten der Straßburger Prediger
zur Wiederheirat eines verlassenen Ehepartners1
21. Dezember 1524
Einleitung
Diese einzigartige Quelle stellt die erste Dokumentation einer unter Absehung der
Autorität des Bischofs getroffenen eherechtlichen Entscheidung durch die sich for-
mierende evangelische Pfarrerschaft Straßburgs dar.2 Es war ja von Anfang an em
Anliegen der reformatorischen Bewegung, die Zuständigkeit des Bischofs und über-
haupt der Kirche für die Ehegerichtsbarkeit radikal in Frage zu stellen.3 Vielmehr
sollte es Sache der weltlichen Obrigkeit sein, die Jurisdiktion in Ehefragen auszu-
üben.4 Aufgrund der zögerlichen und nur widerwilligen Annahme dieses neuen
Aufgabenbereiches durch den Rat mußten die Straßburger Prediger aber bis zum
16. Dezember 1529 auf die Einsetzung eines städtischen Ehegerichtes warten.5 In
der Zwischenzeit blieb lhnen, da sie von ihren Gemeindegliedern als Rechtsinstanz
in Anspruch genommen wurden, nichts anderes übrig, als sich selber der Entschei-
dung von heiklen Eherechtsstreitigkeiten zu stellen, deren Lösung sie dem Bischof
absprachen, welche zu übernehmen der Rat aber noch nicht bereit war.6
1. Entsprechend der 1m Straßburger Stadtarchiv vorhandenen Titulierung lst dieses Gutachten
auch unter dem Namen »Declaration d’Anton Firn sur une question matnmomale« m der For-
schung bekannt. Vgl. Selderhuis, Huwelijk, S. 89 und 422 (= Marriage, S. 70 und 375).
2. Ihre Bedeutung erkannte schon der Bucer-Forscher Fran^ois Wendel, der sie »la premiere ma-
mfestation d’independance ä l’egard de l’officiahte de l’eveque en matiere de juridiction matnmo-
niale« nannte. Wendel, Le mariage ä Strasbourg, S. 71. Vgl. auch die Besprechung dieses Gutachtens
bei BCor I, Nr. 85, S.315; Köhler, Zürcher Ehegericht II, S.377; Selderhuis, Huwelijk, S. 89 (= Mar-
riage, S.70); Millet, Nr.233, S. 78. Anfang und Ende des Gutachtens sind als Faksimile in Ficker/
Winckelmann, Handschnftenproben II, Nr. 62 wiedergegeben.
3. Daß die Ehe ein »äußerlich weltlich Ding« wurde, war eine Konsequenz aus der Bestreitung
ihres Sakramentscharakters durch Luther in seiner Schrift »De captivitate Babylonica ecclesiae«
1520 (WA 6, S. 550,21-560,18). Vgl. Köhler, Luther als Eherichter, S. 18; Dieterich, Das protestanti-
sche Eherecht, S. 38-40.
4. Zur allmählichen Entstehung und Entwicklung der neuen, von den Evangelischen geforderten
städtischen Ehegenchten m der Eidgenossenschaft sowie m den Reichsstädten des gesamten süd-
westdeutschen Raumes vgl. Köhler, Zürcher Ehegencht I und II.
5. Köhler, Zürcher Ehegericht II, S. 370-388; Wendel, Le mariage ä Strasbourg, S.65-76.
6. Auch Luther klagte in einem Brief vom April/Mai 1524 über die vielen Ehefälle, die ihm »auf
dem Halse« lagen und lhn von seiner eigenthchen Arbeit abhielten, WA Br 12, S.60,5—7 (dieser
Brief war nicht, wie in der WA behauptet, an Bucer, sondern an Nicolas Prugner gerichtet, BCor I,
Nr.65bis,S.249f.).