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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Arend, Sabine [Bearb.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (22. Band = Nordrhein-Westfalen, 2): Das Erzstift Köln - die Grafschaften Wittgenstein, Moers, Bentheim-Tecklenburg und Rietberg - die Städte Münster, Soest und Neuenrade - die Grafschaft Lippe (Nachtrag) — Tübingen: Mohr Siebeck, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.33493#0530
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Die Stadt Neuenrade

weigerten und daraufhin ihrer Ämter enthoben wurden. Im Jahr darauf fand Wilken an der von Johann
Casimir gegründeten Hochschule in Neustadt an der Haardt (Weinstraße) eine neue Anstellung als Profes-
sor für Mathematik.öG Seine Bekenntnisverweigerung und deren Folgen mögen dazu beigetragen haben,
dass Wilken immer wieder als Anhänger der reformierten Theologie angesehen wurde.57 Tatsächlich distan-
zierte er sich auch von Luthers Vorstellungen der Realpräsenz Christi im Abendmahl, bekannte sich jedoch
nicht dezidiert zu Calvins Lehre, sondern vertrat eine gemäßigte, Melanchthon folgende Theologie, die
auch den Charakter der Neuenrader Kirchenordnung prägte.58 Somit wäre es durchaus möglich, dass Wil-
ken, der sich in der Ordnung auf die Confessio Augustana als Bekenntnisgrundlage berief, die Variata von
1540 meinte.59
Wilkens konfessionelle Haltung geht auch aus seiner Schrift „Christlich bedencken und erinnerung von
Zauberey“60 hervor. In der 1597 erschienenen dritten Auflage dieses Werks äußerte er sich folgendermaßen:
„Ob ichs in allem mit Calvino oder auch mit Luthero halte, ist ohn not hie zumelden. Daß aber sage ich,
Was ich in iren büchern und in anderer, unangesehen wer sie sein und wie sie heissen, lese, daß mich wahr
und gut bedunckt sein, das nemme ich zur lehr und besserung an nach dem spruch der weisen gelerten: Quid
dicatur, non quis dicat, videndum, das ist: Sihe nur auff das, was geredt wird, nicht auff den, der es redt,
und nach der lehr S. Pauli: Prüfet alles und daß gute behaltet“.61
Die Neuenrader Kirchenordnung war - laut Titelblatt - an Pfingsten 1564 fertiggestellt und wurde im
gleichen Jahr bei Albert Sartor62 in Dortmund gedruckt. Dass die Ordnung für eine einzige Kirchenge-
meinde überhaupt gedruckt wurde, ist bemerkenswert. Der Klever Herzog Wilhelm V., dem Neuenrade als
märkische Stadt unterstand, missbilligte die Kirchenordnung und untersagte deren Gebrauch und weitere
Verbreitung.63 Sein Verbot stand einerseits vor dem Hintergrund, evangelische Regungen in seinem Herr-
schaftsgebiet zu unterbinden, andererseits plante er selbst, eine neue, erasmianisch geprägte Kirchenord-
nung für alle seine Landesteile zu erlassen.64 TVotz Verbot der Ordnung gelang es dem Herzog von Kleve in
Neuenrade nicht, wirksam gegen die Einführung der Reformation in der Stadt vorzugehen. Christian
Hummler65, der seit 1564 als evangelischer Seelsorger in Neuenrade tätig war, richtete sich auch weiterhin
nach Wilkens Kirchenordnung.66 Unklar ist, ob der Magistrat der Reichsstadt Dortmund, in deren Mauern

56 Gryczan, Melanchthonschüler, S. 97-127.
57 So auch Ulbricht, Hermann Witekind, S. 99; Drüll,
Gelehrtenlexikon, S. 558.
58 Gryczan, Melanchthonschüler, S. 364-366. Vgl.
Schlick, Gemeinde- und Gedenkbuch, S. 54. Zu
Melanchthons Abendmahlsverständnis siehe Hund, Jo-
hannes, Kryptocalvinismus und Kryptophilippismus?
Die Wittenberger Abendmahlslehre und Christologie in
den Jahren 1567-1574, in: Philipp Melanchthon. Lehrer
Deutschlands, Reformator Europas (Leucorea-Studien
zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen
Orthodoxie 13), Leipzig 2011, S. 271-290.
59 Dies erwog bereits Brämik, Verfassung, S. 69: „Gemäß
der melanchthonischen Einstellung seines Verfassers
bekannte sich die Kirchenordnung zur Confessio Augu-
stana, ohne hervorzuheben, daß es eine Invariata und eine
Variata gebe“, vgl. ebd., S. 152; Stievermann, Neuen-
rade, S. 115.
60 Hermann Wilken veröffentlichte diese Schrift unter dem
Pseudonym Augustin Lercheimer, Gryczan, Melanch-
thonschüler, S. 142-152. Die Erstauflage von 1585 ist
ediert in: Baron, Christlich bedencken, S. 1-59. Die
zweite Auflage erschien 1586, die dritte Auflage 1597
(ediert in Binz, Lercheimer, S. 1-164). Die dritte Auflage

ist gegenüber der ersten fast doppelt so umfangreich, vgl.
Binz, Lercheimer, S. xxvif.; Sommer, Funktion, S. 257-
287; Ulbricht, Hermann Witekind, S. 99-128.
61 Binz, Lercheimer, S. 74; ferner zitiert bei Schlick,
Gemeinde- und Gedenkbuch, S. 54 und Rothert, Kir-
chengeschichte der Grafschaft Mark, S. 449 Anm. 1.
62 Zu Sartor siehe unten, S. 515 Anm. 1. Vgl. Löffler,
Buchdruck, S. 61f.; Reske, Buchdrucker, S. 161; Gry-
czan, Melanchthonschüler, S. 200 Anm. 29.
63 Gryczan, Melanchthonschüler, S. 201; Binz, Lerchei-
mer, S. xi. Wilhelms Vater Johann III. hatte in ähnlicher
Weise bereits die Einführung der Soester Kirchenordnung
von 1532 zu unterbinden versucht, siehe oben, S. 37Of.
64 Sehling, EKO XXI, S. 45f.; Arend, Sabine, „Obwol
der alte rockh mitt ein newen fleckhen schwerlich zu flick-
hen sein werde, welle er doch sein bestes thun“. Johannes
Brenz und die Kirchenpolitik in Jiilich-Kleve-Berg in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: BDLG 152
(2016), S. 1-72.
65 Hummler stammte aus Attendorn, Schlick, Gemeinde-
und Gedenkbuch, S. 40; Bauks, Pfarrer, Nr. 2915.
66 Brämik, Verfassung, S. 71; Stievermann, Neuenrade,
S. 116.

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