Werner Frick
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durch ihre Texte zirkulieren (um es in Anlehnung an Stephen Greenblatt zu sagen)
und sie in vielfältige intellektuelle und affektive Vibrationen versetzen, erscheint
Literatur tendenziell geradezu „koextensiv mit Welt“ und darin als das womöglich
vielseitigste und flexibelste Kommunikations- und Verständigungsmedium, das unse-
re Kultur sich geschaffen hat. Für etwas so Bewegliches, Anti-Spezialistisches kann
man kein Monopol beanspruchen, nicht als solistischer Spezialist glänzen wollen, wie
schon der stolze Rhapsode Ion in Platons gleichnamigem Dialog erfahren muß, der
sich, frisch beglaubigt durch einen Siegerkranz bei den Nemeischen Spielen, für den
besten Rezitator und Ausleger Homers hält, um sich von Sokrates alsbald nachwei-
sen lassen zu müssen, von wie vielem in der Ilias er viel zu wenig versteht: Für
Fragen nach den herrlichen Streitwagen ist der Wagenlenker zuständig, über Krank-
heiten auch der epischen Heroen weiß der Arzt am besten Bescheid usw. — recht bald
steht der Rhapsode, der Urvater aller professionellen Literaturexperten, sehr
beschämt da. Ich, liebe, verehrte Kollegen, hoffe in der Akademie auf viele Wagen-
lenker von vielen disziplinären Rennbahnen zu treffen, die mir die mannigfachen
Verständnis- und Rätselfragen der Literatur lösen helfen und sich in den produkti-
ven Dialog darüber verwickeln lassen. In meinem letzten Göttinger Jahr hat ein sol-
cher Brückenschlag in der Form einer klassenübergreifenden Ringvorlesung der
Akademie zum Thema „Scientia poetica: Literatur und Naturwissenschaften“ gut
funktioniert, einer Reihe, die ich gemeinsam mit dem Zoologen Norbert Elsner aus-
richten durfte. — In diesem Sinne freue ich mich nun auch in Heidelberg auf viele
anregende Gespräche, Auseinandersetzungen, gemeinsame Unternehmungen und
will versuchen, nach bestem Vermögen das meinige dazu beizutragen.
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durch ihre Texte zirkulieren (um es in Anlehnung an Stephen Greenblatt zu sagen)
und sie in vielfältige intellektuelle und affektive Vibrationen versetzen, erscheint
Literatur tendenziell geradezu „koextensiv mit Welt“ und darin als das womöglich
vielseitigste und flexibelste Kommunikations- und Verständigungsmedium, das unse-
re Kultur sich geschaffen hat. Für etwas so Bewegliches, Anti-Spezialistisches kann
man kein Monopol beanspruchen, nicht als solistischer Spezialist glänzen wollen, wie
schon der stolze Rhapsode Ion in Platons gleichnamigem Dialog erfahren muß, der
sich, frisch beglaubigt durch einen Siegerkranz bei den Nemeischen Spielen, für den
besten Rezitator und Ausleger Homers hält, um sich von Sokrates alsbald nachwei-
sen lassen zu müssen, von wie vielem in der Ilias er viel zu wenig versteht: Für
Fragen nach den herrlichen Streitwagen ist der Wagenlenker zuständig, über Krank-
heiten auch der epischen Heroen weiß der Arzt am besten Bescheid usw. — recht bald
steht der Rhapsode, der Urvater aller professionellen Literaturexperten, sehr
beschämt da. Ich, liebe, verehrte Kollegen, hoffe in der Akademie auf viele Wagen-
lenker von vielen disziplinären Rennbahnen zu treffen, die mir die mannigfachen
Verständnis- und Rätselfragen der Literatur lösen helfen und sich in den produkti-
ven Dialog darüber verwickeln lassen. In meinem letzten Göttinger Jahr hat ein sol-
cher Brückenschlag in der Form einer klassenübergreifenden Ringvorlesung der
Akademie zum Thema „Scientia poetica: Literatur und Naturwissenschaften“ gut
funktioniert, einer Reihe, die ich gemeinsam mit dem Zoologen Norbert Elsner aus-
richten durfte. — In diesem Sinne freue ich mich nun auch in Heidelberg auf viele
anregende Gespräche, Auseinandersetzungen, gemeinsame Unternehmungen und
will versuchen, nach bestem Vermögen das meinige dazu beizutragen.