Jürgen Leonhardt
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tes Semester in München galt nicht Bayern und seiner Hauptstadt, sondern fast aus-
schließlich der bayerischen Staatsoper. Doch auch das Latein war nicht vergessen; als
Musikwissenschaftler lag mir die lateinische Kultur der Renaissance besonders nahe.
Daß ich dann nach einigen Semestern die Schwerpunkte verlagerte und Altphilologe
wurde, hing wesentlich damit zusammen, daß ich in München eine Doktorarbeit
über ein latinistisches Thema aus der Renaissance schreiben konnte. In Europas
Bibliotheken mit Handschriften und alten Drucke zu arbeiten und dabei ständig neue,
bisher nicht bekannte Schriften zu entdecken, war dabei ein ganz besonderes Ver-
gnügen für mich. Als Assistent von Wilfried Stroh in München waren meine Dienst-
aufgaben im übrigen recht unkonventionell und eher dem aktiven Gebrauch des
Lateinischen zuzurechnen; ich beschäftigte mich z.B. mit der Organisation lateini-
scher Festivals und schrieb dafür lateinische Programmhefte. Das mag wenig wissen-
schaftlich erscheinen; die Erfahrungen, die ich dabei sammelte, wurden jedoch über-
raschenderweise später wieder in anderer Weise wissenschaftlich wichtig für mich.
Wilfried Stroh war auch der Mann, der mir wohlmeinend und zu Recht riet,
wenn ich je eine Wissenschaftlerlaufbahn ergreifen wollte, müsse ich mich auch den
zentralen Themen des Faches zuwenden. Und so habilitierte ich mich 1994 ganz
klassisch über Cicero. Noch im gleichen Jahr wurde ich an die Universität Rostock
berufen. 1997 folgte ich einem Ruf an die Universität Marburg, und 2004 schließ-
lich kehrte ich nach 22 Jahren an meinen Studienort Tübingen zurück, als Nachfol-
ger von Ernst August Schmidt, bei dem ich als Student noch einige begeisternde
Lehrveranstaltungen besucht hatte. Eine inzwischen fünfköpfige Familie will in
Tübingen auch ihren Platz haben, und deswegen wird es noch einige Monate
dauern, bis wir auch privat unsere Deutschlandrundreise beendet haben.
Die Zeit zwischen meiner Berufung nach Rostock und heute ist für mich mit
einer eigentümlichen Doppelentwicklung verbunden. Auf der einen Seite konnte
ich mich frei von äußeren Rücksichten wieder mehr dem Neulateinischen zuwen-
den. Dazu bot bereits die Universität Rostock mit vorzüglichen historischen Buch-
beständen und einer großen humanistischen Tradition reiche Anregung. Ein ganz
besonderes Ereignis war für mich, daß ich 1997 eine Ausstellung mit den Lehr-
büchern Philipp Melanchthons gestalten konnte. Die Beschäftigung mit dem Alltag
des Lateinunterrichts und der Bildungskultur hält an; derzeit läuft ein größeres For-
schungsprojekt, in dem wir rekonstruieren, wie vor 500 Jahren Cicerovorlesungen
an einer deutschen Universität ausgesehen haben. Betrachte ich heute die Liste mei-
ner Publikationen und Projekte, so stehen die lateinischen Texte der Neuzeit ganz
im Mittelpunkt. Das ist für Klassische Philologen auch gar nicht mehr so unge-
wöhnlich. War ich 1985 noch einer von wenigen, die eine neulateinische Doktor-
arbeit anfertigten, so ist dies heute ganz normal geworden - nicht zuletzt aufgrund
des Wirkens von Philologen wie Manfred Fuhrmann und Walther Ludwig, die schon
immer propagiert hatten, Gegenstand der Latinistik müsse auch die lateinische Lite-
ratur der Neuzeit sein. Und da es in Deutschland keine Lehrstühle dafür gibt, ist es
nur natürlich, wenn man sich von der Antike aus diesem Feld zuwendet. Die neula-
teinische Philologie ist dabei allerdings keine rein latinistische Angelegenheit, son-
dern ein besonders interdisziplinäres Gebiet, auf dem die Kompetenzen verschiede-
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tes Semester in München galt nicht Bayern und seiner Hauptstadt, sondern fast aus-
schließlich der bayerischen Staatsoper. Doch auch das Latein war nicht vergessen; als
Musikwissenschaftler lag mir die lateinische Kultur der Renaissance besonders nahe.
Daß ich dann nach einigen Semestern die Schwerpunkte verlagerte und Altphilologe
wurde, hing wesentlich damit zusammen, daß ich in München eine Doktorarbeit
über ein latinistisches Thema aus der Renaissance schreiben konnte. In Europas
Bibliotheken mit Handschriften und alten Drucke zu arbeiten und dabei ständig neue,
bisher nicht bekannte Schriften zu entdecken, war dabei ein ganz besonderes Ver-
gnügen für mich. Als Assistent von Wilfried Stroh in München waren meine Dienst-
aufgaben im übrigen recht unkonventionell und eher dem aktiven Gebrauch des
Lateinischen zuzurechnen; ich beschäftigte mich z.B. mit der Organisation lateini-
scher Festivals und schrieb dafür lateinische Programmhefte. Das mag wenig wissen-
schaftlich erscheinen; die Erfahrungen, die ich dabei sammelte, wurden jedoch über-
raschenderweise später wieder in anderer Weise wissenschaftlich wichtig für mich.
Wilfried Stroh war auch der Mann, der mir wohlmeinend und zu Recht riet,
wenn ich je eine Wissenschaftlerlaufbahn ergreifen wollte, müsse ich mich auch den
zentralen Themen des Faches zuwenden. Und so habilitierte ich mich 1994 ganz
klassisch über Cicero. Noch im gleichen Jahr wurde ich an die Universität Rostock
berufen. 1997 folgte ich einem Ruf an die Universität Marburg, und 2004 schließ-
lich kehrte ich nach 22 Jahren an meinen Studienort Tübingen zurück, als Nachfol-
ger von Ernst August Schmidt, bei dem ich als Student noch einige begeisternde
Lehrveranstaltungen besucht hatte. Eine inzwischen fünfköpfige Familie will in
Tübingen auch ihren Platz haben, und deswegen wird es noch einige Monate
dauern, bis wir auch privat unsere Deutschlandrundreise beendet haben.
Die Zeit zwischen meiner Berufung nach Rostock und heute ist für mich mit
einer eigentümlichen Doppelentwicklung verbunden. Auf der einen Seite konnte
ich mich frei von äußeren Rücksichten wieder mehr dem Neulateinischen zuwen-
den. Dazu bot bereits die Universität Rostock mit vorzüglichen historischen Buch-
beständen und einer großen humanistischen Tradition reiche Anregung. Ein ganz
besonderes Ereignis war für mich, daß ich 1997 eine Ausstellung mit den Lehr-
büchern Philipp Melanchthons gestalten konnte. Die Beschäftigung mit dem Alltag
des Lateinunterrichts und der Bildungskultur hält an; derzeit läuft ein größeres For-
schungsprojekt, in dem wir rekonstruieren, wie vor 500 Jahren Cicerovorlesungen
an einer deutschen Universität ausgesehen haben. Betrachte ich heute die Liste mei-
ner Publikationen und Projekte, so stehen die lateinischen Texte der Neuzeit ganz
im Mittelpunkt. Das ist für Klassische Philologen auch gar nicht mehr so unge-
wöhnlich. War ich 1985 noch einer von wenigen, die eine neulateinische Doktor-
arbeit anfertigten, so ist dies heute ganz normal geworden - nicht zuletzt aufgrund
des Wirkens von Philologen wie Manfred Fuhrmann und Walther Ludwig, die schon
immer propagiert hatten, Gegenstand der Latinistik müsse auch die lateinische Lite-
ratur der Neuzeit sein. Und da es in Deutschland keine Lehrstühle dafür gibt, ist es
nur natürlich, wenn man sich von der Antike aus diesem Feld zuwendet. Die neula-
teinische Philologie ist dabei allerdings keine rein latinistische Angelegenheit, son-
dern ein besonders interdisziplinäres Gebiet, auf dem die Kompetenzen verschiede-