Jürgen Leonhardt | 147
Je genauer ich zweitens die Entwicklung des Lateinischen zur Kultursprache
betrachtete, desto deutlicher wurde, daß die Grenze zwischen historischen Kultur-
sprachen und sogenannten „normalen Sprachen“ fließend ist. Um es ein wenig
überspitzt auszudrücken: Ob z.B. die deutsche Sprache der Gegenwart nicht bereits
ebenfalls den ersten Schritt getan hat, nach 500 Jahren als historische Kultursprache
weiterzubestehen, während die normale Bevölkerung anders spricht, ist noch nicht
ausgemacht. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, ist dieser Prozeß noch deut-
licher sichtbar, und man hat dort auch schon den Vergleich mit der Entwicklung des
antiken Latein gezogen.
Drittens schließlich hat mich in den letzten Jahren zunehmend das Phänomen
beschäftigt, daß sich die Verwendung historischer Kulturformen nicht auf die Spra-
che beschränkt, sondern ein allgemeines Kulturphänomen ist. Wenn man alte Stadt-
bilder wiederherstellt oder Mittelaltermärkte veranstaltet, tut man letztlich nichts
anderes, wie wenn man eine alte, nicht mehr lebendig tradierte Sprache gebraucht.
Und selbst in vielen Kleinigkeiten unseres Alltags begegnen wir ständig neuen
„Retromoden“. Der wohl wichtigste Fall eines historischen Kulturbetriebs steht mir
besonders nahe, und damit bin ich wieder an meinem biographischen Ausgangs-
punkt: ich meine die Musik. Daß wir heute als Teil unserer Kultur eine „Klassische
Musik“ haben, ist ja nichts anderes als die Kanonisierung eines historischen Corpus
von Musiktexten. Renaissancephänomene wie die Wiederentdeckung der Barock-
musik oder der historischen Aufführungspraxis erinnern mich als Latinisten an die
diversen reformierenden Rückgriffe auf die Latinität der Antike in verschiedenen
Stadien der europäischen Kulturgeschichte. Auch hier bin ich neugierig auf eine
systematische Durchdringung des Phänomens.
Fragen dieser Art sind, auch wenn sie über die Latinistik hinausreichen, nach
meinem Urteil auch für das Lateinische wichtig, und Latein seinerseits ist wohl der
auf der ganzen Welt am besten dokumentierte Fall einer solchen historischen Ent-
wicklung. Ob meine persönliche Motivation für solche Fragestellungen allerdings
vielleicht mehr dem unbewußten Drang entspringt, meine angeborene Vorliebe für
alte Gegenstände rational zu rechtfertigen, mögen andere beurteilen. Mit besserer
Rechtfertigung als zuvor könnte ich jedenfalls jetzt wieder ins Lateinische zurück-
fallen. Ich will dies aber nicht tun, sondern danke auf Deutsch für Ihre Aufmerk-
samkeit und sage am Ende in lateinischer Kürze: Dixi.
Je genauer ich zweitens die Entwicklung des Lateinischen zur Kultursprache
betrachtete, desto deutlicher wurde, daß die Grenze zwischen historischen Kultur-
sprachen und sogenannten „normalen Sprachen“ fließend ist. Um es ein wenig
überspitzt auszudrücken: Ob z.B. die deutsche Sprache der Gegenwart nicht bereits
ebenfalls den ersten Schritt getan hat, nach 500 Jahren als historische Kultursprache
weiterzubestehen, während die normale Bevölkerung anders spricht, ist noch nicht
ausgemacht. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, ist dieser Prozeß noch deut-
licher sichtbar, und man hat dort auch schon den Vergleich mit der Entwicklung des
antiken Latein gezogen.
Drittens schließlich hat mich in den letzten Jahren zunehmend das Phänomen
beschäftigt, daß sich die Verwendung historischer Kulturformen nicht auf die Spra-
che beschränkt, sondern ein allgemeines Kulturphänomen ist. Wenn man alte Stadt-
bilder wiederherstellt oder Mittelaltermärkte veranstaltet, tut man letztlich nichts
anderes, wie wenn man eine alte, nicht mehr lebendig tradierte Sprache gebraucht.
Und selbst in vielen Kleinigkeiten unseres Alltags begegnen wir ständig neuen
„Retromoden“. Der wohl wichtigste Fall eines historischen Kulturbetriebs steht mir
besonders nahe, und damit bin ich wieder an meinem biographischen Ausgangs-
punkt: ich meine die Musik. Daß wir heute als Teil unserer Kultur eine „Klassische
Musik“ haben, ist ja nichts anderes als die Kanonisierung eines historischen Corpus
von Musiktexten. Renaissancephänomene wie die Wiederentdeckung der Barock-
musik oder der historischen Aufführungspraxis erinnern mich als Latinisten an die
diversen reformierenden Rückgriffe auf die Latinität der Antike in verschiedenen
Stadien der europäischen Kulturgeschichte. Auch hier bin ich neugierig auf eine
systematische Durchdringung des Phänomens.
Fragen dieser Art sind, auch wenn sie über die Latinistik hinausreichen, nach
meinem Urteil auch für das Lateinische wichtig, und Latein seinerseits ist wohl der
auf der ganzen Welt am besten dokumentierte Fall einer solchen historischen Ent-
wicklung. Ob meine persönliche Motivation für solche Fragestellungen allerdings
vielleicht mehr dem unbewußten Drang entspringt, meine angeborene Vorliebe für
alte Gegenstände rational zu rechtfertigen, mögen andere beurteilen. Mit besserer
Rechtfertigung als zuvor könnte ich jedenfalls jetzt wieder ins Lateinische zurück-
fallen. Ich will dies aber nicht tun, sondern danke auf Deutsch für Ihre Aufmerk-
samkeit und sage am Ende in lateinischer Kürze: Dixi.