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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2006 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2006
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Schulin, Ernst: Reinhart Koselleck (23.4.1923-3.2.2006)
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nologie des gewaltsamen Todes“. Aber er studierte nicht, wie so viele andere, um
die unmittelbaren Ursachen der erlebten Schreckenszeit historisch zu erforschen.
Philosophisch, staatsrechtlich und historisch suchte er nach Erkenntnismöglichkeiten
der gesamten modernen Welt. Dafür setzte er sich mit seinen großen Heidelberger
Lehrern Gadamer, Karl Löwith, Alfred Weber, Johannes Kühn auseinander, befragte
aber auch den politisch belasteten Carl Schmitt. Er wollte von Gegenwartsströmun-
gen möglichst unabhängig werden, mißtraute also nicht nur der kommunistischen
Ideologie, sondern auch der amerikanischen „reeducation“ mit ihren politisch-
moralischen Umwertungen im damaligen Westdeutschland.
Persönlich verstand er sich als echter Preuße mit seiner väterlich deutsch-sla-
wischen, aber auch seiner mütterlich hugenottischen Abstammung. Besonders gern
wies er auf seinen Vorfahren Samuel Formey hin, den Sekretär der Berliner Akade-
mie in der Zeit Friedrichs II. und Verfasser des Artikels „Temps“ in der „Encyclope-
die“. Den „philosophes“ der französischen Aufklärung mit ihrem kritischen Esprit
und künstlerischen Geschmack fühlte er sich überhaupt verwandt. Von ihnen, von
ihrer Staatskritik während der zur Französischen Revolution führenden Krise han-
delte seine Dissertation „Kritik und Krise". Der Untertitel „Eine Studie zur Patho-
genese der bürgerlichen Welt“ weist schon daraufhin, dass er sich ihrer Kritik nicht
einfach anschloß, sondern sie im Hinblick auf ihre ambivalenten Folgen bis zur
Gegenwart beurteilte. Am ehesten schloß er sich Rousseau und Raynal an, weil sie
über Staat und Kirche hinaus auch die moralisierende bürgerliche Gesellschaft
angriffen. Während viele von Kosellecks Generationsgenossen gerade lernten, Auf-
klärung und Französische Revolution im Sinne des Fortschritts zur Demokratie
positiver zu sehen, als das früher in Deutschland gängig war, wies er auf die zerstö-
rerischen Auswirkungen des utopischen, staatsfeindlichen Denkens hin, ähnlich wie
wenig später der israelische Politikwissenschaftler J. L.Talmon in seiner „Geschichte
der totalitären Demokratie".
1957 kam Werner Conze nach Heidelberg, gründete den „Arbeitskreis für
moderne Sozialgeschichte“ und begann eine lange, fruchtbare Zusammenarbeit mit
Koselleck. Dieser habilitierte sich bei ihm 1965 mit einer „zünftigeren“, fak-
tennäheren historischen Untersuchung über „Preußen zwischen Reform und
Revolution. Allgemeines Landrecht und soziale Bewegung von 1791 bis 1848“.
Anders als bei Frankreich konnte er hier das einigermaßen konstruktive Zusam-
menwirken von reformbewußter Verwaltung, ständischen Hemmungen und politi-
schen Forderungen des wirtschaftlich fortschrittlichen Bürgertums darstellen, mit all
den unerwarteten, unerwünschten Zwischenergebnissen, die durch die ungleichzei-
tigen Entwicklungen hervorgerufen wurden. Ähnlich differenziert beschrieb er dann
für die „Fischer-Weltgeschichte“ (1969) die europäische Geschichte 1815-1848 in
ihren machtpolitischen, verfassungsmäßigen und wirtschaftlich-sozialen Strukturen.
Vor allem galt die erfolgreiche Zusammenarbeit der Begriffsgeschichte. Man
kann sie als eine neue Spezialform von Geistesgeschichte bezeichnen, darauf ausge-
richtet, sprachlichen Bedeutungswandel, in erster Linie Begriffsveränderungen, als
Zeichen oder Resultate von politischem und gesellschaftlichem Wandel zu erfor-
schen. Otto Brunner hatte schon in den dreißiger Jahren angeregt, sich die unter-
 
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